EDITORIAL, GESELLSCHAFT, PAULINE
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alles, was seltsam ist, ist gut. vor allem bei nachbarn.

ich schau mir nachts manchmal heimlich wohnungsanzeigen in fremden städten an und überlege mir, wie es wäre und welchen blick man von den fenstern hat und welche nachbarn man hassen würde und wen man nie mehr zurücklassen will.

unter meinem zimmer ist eine sargwerkstatt.

ich höre es tackern, morgens um sechs, ich weiß, da ist wieder einer gestorben oder wird es bald tun.

manchmal stehe ich dann auf, brühe mir einen tee und blicke in den frühen würzburger morgen. Die jahreszeiten verändern das licht. im winter kann ich die festung durch die äste ahnen. im sommer ist alles dunkelgelb und das licht hängt auf schulterhöhe in der küche.

im keller tackern sie seide an holz, leinen an eiche.

im frühling begrüßen wir uns im innenhof, der bestatter und ich. ich bringe müll raus, er raucht und erzählt davon, dass er die farbe meiner katze mag. weil sie wie ein pfarrer aussieht mit dem schwarzen fell und dem weißen fleck auf der brust. er erzählt von der seltsamkeit seines berufs.

ich würde mich gerne von ihm bestatten lassen, denke ich, dann ist der weg nicht so weit.

früher bin ich durch die städte, in denen ich wohnte [viele], gelaufen, indem ich alle straßenzüge verpasst habe. ich konnte mich nicht mit der gegenwart anfreunden. war immer schon eine haltestelle weiter, ein anderer blick, ein wärmeres klima, höhere häuser vielleicht auch. die fremde meines blickes beim weiterziehen erschien irritierend im schaufenster, im spiegelbild.

ich habe mal auf einem bauernhof gewohnt. er war weit draußen, außerhalb des ortes, an dem ich studiert habe. wir waren zu fünft. wir bauten zucchini und tomaten an. wir holten milch beim bauern von gegenüber. und eier, bitte, ein paar kartoffeln für später. wir wollten noch den kuchen backen. da hatte einer geburtstag. die tür zum hof war immer offen. wir schlossen nie ab. die nachbarn sehen alles. da sind wir sicher, weißt du.

manchmal treff ich den bestatter auf der straße. er sagt: „wie geht es dir? deine katze hat wieder versucht, ins lager zu kommen.“ ich sage: „entschuldigung, das tut mir leid.“ der bestatter sagt: „ach, macht nichts, ich schmeiß den kater raus. dann kriegt er draußen leckerlis. ich muss jetzt mal weiter, kommt ne große sarglieferung jetzt.“

als ich nachts um zwei von einem auftritt zurückkomme, merke ich, dass ich meinen haustürschlüssel vergessen habe. für einen moment stehe ich hilflos vor der tür, überlege, ob ich im auto schlafen soll, jetzt, im winter. ich zögere, dann wähle ich die nummer meiner nachbarin, die über mir wohnt und den ersatzschlüssel für mich aufbewahrt. Sie öffnet mir die tür, macht einen tee und wir freuen uns über das muster ihres schlafanzuges. am nächsten tag schenke ich ihr einen brombeerfarbenen schal und denke:

ohne all das wären das schöne wohnungen gewesen. da wären die dielen aus holz gewesen, die decken hoch, der stuck akkurat, der garten grün, der balkon südlich. da hätte ich tee getrunken und mich nicht wundern müssen. da wäre alles sortiert, der horizont gerade gerückt, das licht immer gleich.

so halte ich meine augen offen, so ist die wohnung besonders, so möchte ich an dieser stelle bleiben, in dieser straße, in diesem haus.

Pauline Füg ist Autorin, Poetry Slammerin und mehrfache Nachbarin.Die in Würzburg lebende Poetin hat ihr kulturelles Zuhause im hiesigen Stellwerck Verlag. Dort erschien 2010 ihr Lyrikband „Die Abschaffung des Ponys“. Außerdem ist sie Mitglied der Lesebühne großraumdichten&kleinstadtgeschichten, die alle zwei Monate im Theater am Neunerplatz stattfindet. 2011 gewann sie den Kulturpreis Bayern. Sie gibt Workshops sowie Lehrerfortbildungen zum Thema „Poetry Slam“.  

www.paulinefueg.de

Foto: Marvin Ruppert

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