GESELLSCHAFT, NACHBARN, SEHEN-HÖREN-FÜHLEN

AFGHANISTAN IST BERUFUNG UND RANDERSACKER IST HEIMAT

Anna-Maria und Dr. Peter Schwittek haben noch einmal Glück gehabt. „Das Erdbeben ist uns ganz schön in die Knochen gefahren“, sagt der Randersackerer. Das Haus mit dem Büro ihrer Hilfsorganisation in Kabul wurde zum Glück nicht beschädigt. „Man ist dem Naturereignis ja ganz und gar ausgesetzt“, bemerkt der promovierte Mathematiker. „Wenn die Erdstöße vorbei sind, fürchtet man immer, dass es gleich wieder von neuem losgeht.“

Ihre Mitarbeiter haben sich auf der Wiese vor dem Haus in Sicherheit gebracht. „Jeder versuchte natürlich, telefonischen Kontakt mit der Familie aufzunehmen, doch das Telefonnetz war überlastet“, ergänzt seine Frau Anna-Maria. Kollege Hekmats Haus, rund 40 Kilometer von der afghanischen Hauptstadt entfernt, sei teilweise eingestürzt. „Hoffentlich schaffe ich es, noch vor dem ersten Frost eine Unterkunft für meine Familie zu finden“, sagt er, der vor ein paar Jahren mit Schwitteks in Randersacker wohnte, während seine Tochter in München operiert wurde. „Ich bekam einen Kinderwagen geliehen und bin immer am Main spazieren gegangen“, erinnert er sich.

Zum Glück sind Schwitteks Schützlinge wohlauf. Die Kinder und Jugendlichen besuchen das Schulprogramm von Schwitteks Hilfsorganisation OFARIN. Das Paar lebt seit 1978 in
Afghanistan, es hat Kriege, Naturkatastrophen, Rückschläge und Erfolge erlebt. Jetzt blicken beide stolz auf die Jahre des Aufbaus ihres Schulprogramms zurück. 1986 waren sie Mitbegründer von GESA Gesundheitshilfe Afghanistan e. V. und LEPCO, der Partnerorganisation der in Würzburg ansässigen DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe e. V. Noch heute ist Anna-Maria Mitglied der DAHW. Doch jetzt stecken die Mittsiebziger ihre Kraft in die Weiterführung von OFARIN.

Schulbildung in Moscheen
„Eine gute Schulbildung ist für die Entwicklung des Landes wichtiger denn je“, sagt Schwittek. „Die rund 760 Mädchen und Jungen des Grundschulprogrammes müssen zum selbstständigen Denken angeregt werden, denn nur so kann der Unterricht auch umgesetzt werden“, sagt seine Frau. Mitarbeiterin Frozan ist für die Lehrerfortbildung zuständig und Kollege Sher Khan ist der lokale Leiter des Schulprogrammes. „Oft konzentrieren sich in den staatlichen Schulen die Lehrer nur auf ein oder zwei Schüler. Dann gerät die ganze Klasse in Schieflage. Genau das wollen wir mit unserem Unterricht vermeiden“, sagt die Mittzwanzigerin. „So gibt es in den Klassen je zwei Lehrer oder Lehrerinnen mit rund 30 Kindern. Unterteilt wird in zwei Gruppen. Wir stellen keine Ja- oder Nein-Fragen. Die Kinder werden zum Denken und Erklären animiert.“

In Kabul und Umgebung gibt es 25 Vorschul- und über 400 Grundschulklassen, für die OFARIN zuständig ist. Der Unterricht findet meistens früh morgens in Moscheen statt. „Die Räume werden uns von den Mullahs zur Verfügung gestellt. Wir sind sehr froh darüber“, sagt Anna-Maria Schwittek. Das Projekt wird unterstützt von Misereor, Die Sternsinger, einer Schweizer Stiftung und durch Privatspenden. Lehrerin Aicha macht der Unterricht Spaß. Die Kleinen, die sich auf den mit Teppich belegten Fußboden des Gotteshauses drängen, recken Köpfe und Finger in die Höhe. „Ich gehe selbst noch zur Schule und möchte den Kleinen etwas von meinem Wissen weitergeben“, sagt die 17-Jährige. „Ich selbst möchte später Staatsanwältin werden.“ Eine ihrer Schülerinnen ist Hojerat. Sie besucht die 12. Klasse eines Gymnasiums, kann selbst aber weder lesen, noch schreiben und rechnen. Deshalb sitzt sie jetzt auch mit den Grundschülern zusammen. „Das ist ein großes Problem hier. Die wenigsten lernen in den staatlichen Schulen den Unterrichtsstoff, den sie zum Leben und fürs Studium brauchen“, betont der Würzburger Friedenspreisträger. In einem Teil des Raumes warten bereits neu hinzugekommene Frauen und Mädchen auf ihre Aufnahme. Doch für neue Klassen fehlt das Geld.

Rund 700 Euro pro Jahr werden benötigt, um eine Klasse zu finanzieren. „In dem Betrag ist alles dabei, auch die Fahrten, um die Qualität des Unterrichts zu gewährleisten“, sagt Anna-Maria Schwittek.

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Familie Schwittek mit dem OFARIN-Personal in Kabul.

Die Leute aus dem Orient
Jetzt freuen sie sich schon wieder auf das heimatliche Randers-
acker. Denn es wird kalt in Kabul, und die wenigsten Häuser lassen sich gut heizen. In dem Ort bei Würzburg sind sie gleich wieder „mittendrin im Dorfleben.“ Fünf Monate wird das Paar in Unterfranken bleiben. Während des Studiums in Bonn haben sich der Mathematiker und die Psychologin kennengelernt. Gemeinsam gingen sie nach Würzburg, wo Peter Schwittek promovierte. „Randersacker kannten wir nur durch den Federweißen“, sagt die gebürtige Kölnerin. „Dann haben wir uns in ein leer stehendes Haus verliebt und es innerhalb von einer Woche gekauft. Außerdem waren die Mieten in Würzburg viel zu hoch.“ Die Dorfbewohner kennen sie als „Leute aus dem Orient“. „Randersacker ist Heimat und Afghanistan Berufung. Ein schönes Gefühl, das ich jedes Mal habe, wenn ich gesund aus dem Hindukusch zurückkomme“, ergänzt Familienvater Schwittek.

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Text & Fotos: Sabine Ludwig

Sabine Ludwig ist Journalistin. Spezialisiert auf Entwicklungszusammenarbeit arbeitet sie außerdem als Krisenreporterin und als Wahlbeobachterin für die OSZE. Geboren wurde sie in Würzburg. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften und Journalismus in Deutschland und den USA. Als Journalistin und Buchautorin publiziert sie im In- und Ausland.

Bis 2009 war sie als Redakteurin beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED) in Bonn tätig. Danach arbeitete sie als Lehrbeauftragte für Journalismus und Public Relations (PR) an der Fachhochschule in Würzburg. Heute ist sie Pressereferentin bei der DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe.