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SAVE THE UNITED STATES

Ich beneide meine Tante aus Würzburg ja nicht gerade um vieles. Vor allem nicht um meinen Onkel. Doch als sie mir kürzlich erzählte, dass sie 1963 per Transatlantikdampfer nach Amerika übersetzte, war neben meiner aufrichtigen Missgunst auch mein Interesse geweckt. Insbesondere, da es sich dabei nicht um irgendeinen Kutter handelte, sondern um das bis heute schnellste Passagierschiff der Welt: die SS United States. Heute verrostet Amerikas einstiges Flaggschiff in einem Hafenbecken in Philadelphia – und hat dabei überraschend viel mit seinem Namensgeber gemein …

Der frisch sanierte Häuserblock wirkt leicht deplatziert inmitten des verwahrlosten Straßenzugs. „They call it Promise Zones“, klärt mich der Taxifahrer auf. Zu einem dieser bislang fünf „Hoffnungsviertel“ der USA hat Präsident Obama jüngst Teile Philadelphias erklärt. In Hemdsärmeln. Mit gezielten Steuererleichterungen sollen Unternehmen in besonders strukturschwache Gegenden gelockt und Wohnungen mittels weitgehend unbürokratisch abrufbarer Fördergelder im Schnelldurchlauf saniert werden. Die Mieter zahlen nur soviel sie können – im Gegenzug übernehmen sie Verantwortung. Sozialer Wohnungsbau in den USA? Der Taxifahrer winkt ab. Das wäre ungefähr so, meint er, als würde man etwas Farbe auf die „Big U“ streichen, wie er Amerikas einstiges Flaggschiff liebevoll nennt, das an Pier 82 seit beinahe 20 Jahren vor sich hindümpelt. „Man tüncht die Schornsteine wieder mit frischem Rot und fährt den Schriftzug nach – und schon glaubt jeder, alles sei auf einem guten Weg. Aber nichts ist gut, dem Schiff geht’s wie dem Land, nach dem es benannt ist.“ Das Schiff. Eine schwimmende Hülle aus Stahl und Aluminium. Ein lebloser Pott, der sich seit 1969 nicht mehr aus eigener Kraft bewegt hat, obgleich er soviel davon besaß. Hat er diesen langsam sterbenden Dinosaurier gerade im Ernst mit den Vereinigten Staaten verglichen?

Ein Traum …
Wie oft hatte ich schon versucht, mich durch Zuhilfenahme aller aufbietbaren Rationalismen gedanklich von diesem Ungetüm zu lösen. Aus reinem Selbstschutz; gibt es doch anerkanntermaßen nichts Schmerzhafteres als einen Abschied auf Raten. Dass der Gegenstand des Abschieds eigentlich ein bloßer Traum ist, oder gar eine Illusion, macht die Sache dabei auch nicht besser. Im Gegenteil: Es ist der Traum von einer Zeit, die ich nie erlebt habe. Einer Zeit, die das Wort „Traum“ als Leitprinzip beanspruchte – ohne Klimadebatte, Rauchverbot und Abgasnormen, aber dafür mit einer denkbar klaren Verortung von Gut und Böse in exakt zwei Himmelsrichtungen. Eine Zeit, in der Autos noch „Bel Air“, „Barracuda“ oder „Windsor“ hießen und nicht „Sonic“, „Matiz“ oder „PT Cruiser“; in der ein nie zu enden scheinender Strom aus Öl, Geld und Arbeit für jedermann alles unter sich begrub, was auch dem unbeirrbarsten Berufspessimisten nur annähernd problematisch dünkte; in der jeder noch so kleine Arbeiter das Gefühl hatte, seinen Teil beizutragen zum „Big Deal“ einer Weltmacht, die den Begriff des Leadership für sich gepachtet zu haben schien – militärisch, politisch, industriell. Eine Zeit auf Koks – im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht unbedingt gesund, soviel sei eingestanden, spornt jene Droge ihre Konsumenten dennoch bekanntermaßen zu Höchstleistungen an, insbesondere, weil sie rationale „Bremsvorgänge“ konsequent eliminiert. Das Schiff. Nur unter diesen Voraussetzungen konnte es entstehen. Allein jene einzigartige Mischung aus einer gehörigen Portion Wahnsinn, gepaart mit genialer Ingenieurskunst vermochte diesen schwimmenden Giganten hervorzubringen.

… und sein Gegenstand
Als sich aus der grauen Tristesse des postindustriellen Mischgebiets am Delaware River plötzlich die Silhouette des Ozeanliners erhebt, vergesse ich kurz Luft zu holen. Es ist jener
Moment, der die gesamte Reise rechtfertigt; eine jener raren Augenblicke, in denen das Symbol einer ebenso oft durchdachten wie doch stets vagen Vorstellung plötzlich leibhaftig vor Augen erscheint – und Geschichte „zu atmen beginnt“. Ich fühle mich wie ein Kind, das plötzlich vor Ronja Räubertochters Burg steht – nur mit dem Unterschied, dass die Geschichte dahinter nicht gänzlich fiktiv ist. Es ist die Geschichte einer Nation, eine Geschichte von Aufstieg und Fall, die sich aus abertausenden kleiner Geschichten zusammensetzt. Wie beispielsweise der des Schiffskonstrukteurs Francis William Gibbs, der nie studiert hatte. Ein Autodidakt, der das schnellste Schiff der Welt konstruierte. Auch das war Amerika. Es ist die Geschichte des ungebrochenen Glaubens an Superlative: 241.785 PS aus vier Westinghouse-Getriebe-Dampfturbinen, die sonst nur in Flugzeugträgern Verwendung fanden, ließen den über 300 Meter langen und 1 Hektar Fläche umfassenden Koloss mit umgerechnet 71 km/h durch die Wellen des Atlantiks pflügen. Moses wäre wohl vor Neid erblasst. Bis zu 700 Tonnen Schweröl pro Tag jagte die SS United States, bis heute Trägerin des „Blauen Bandes“ für die schnellste Transatlantikfahrt, durch ihre leuchtend roten Schornsteine. Oversized? Yes, of course! Nicht zuletzt war sie für einen schnellen Umbau zum Truppentransporter konzipiert worden – auch wenn es dazu nie kommen sollte. Es ist aber ebenso die Geschichte großer Persönlichkeiten, die auf der 1952 vom Stapel gelaufenen SS United States den Großen Teich überquerten, ob John F. Kennedy oder die ihm nur zu gut bekannte Marylin Monroe, Liz Taylor, Konrad Adenauer, Leonard Bernstein, Marlon Brando … Und es ist die Geschichte des „Morgens danach“.

LAAAA
Alkohol war auch schon 1963 eine Lösung: die Minibar

Das Erwachen
Nachdem durch die Etablierung des Flugzeugs als ziviles Verkehrsmittel die Personenbeförderung per Schiff generell unrentabel geworden war, wusste man mit der übermotorisierten Lady seit ihrer Außerdienststellung am 2. November 1969 nichts Rechtes anzufangen. Gleich einer alternden Staatskarosse wich ihr einstiger Glanz zunehmend der Patina der Vergänglichkeit. Die wechselnden Träume wechselnder Besitzer kollidierten in unerbittlicher Regelmäßigkeit mit den Realitäten einer veränderten Welt. Was mit Vietnam begonnen hatte, zeigte sich plötzlich auch in wirtschaftlicher Hinsicht: Amerika war fehlbar geworden und verletzlich, hatte viel zu lange verdrängt, dass es nicht ausreicht, sich auf schiere Größe und eine glorreiche Vergangenheit zu berufen, um in einer Welt bestehen zu können, in der Freund und Feind ebenso schwer zu unterscheiden sind wie Konkurrenten und Partner. Längst saß der „Feind“ nicht mehr nur außerhalb der eigenen Grenzen; es galt plötzlich auch, sich mit der wachsendenden Unzufriedenheit im eigenen Land auseinanderzusetzen. Wo zuvor noch Visionen und der Kampf um die ersten Plätze das Feld dominierten, stand plötzlich ein etwas zu groß geratener Narziss, der in der Beschäftigung mit sich selbst „versinkt“ – und dabei noch unfreiwillig Stück für Stück der jahrelang liebevoll gepflegten Doppelmoral dem Spott einer kritischer gewordenen Welt preisgibt. Es folgten Jahre des Stillstands, Traumfabrik um Traumfabrik schloss ihre Tore. Wie der Rost über die Planken der Big U fraßen sich die Industriebrachen übers Land – und die Traumbrachen in die Herzen der Menschen.

Giganten-Gerippe
Die Versprechen, den „American Dream“ wieder aufleben zu lassen, erschallten so oft aufs Neue, wie die „United States“ ihre Besitzer wechselte. Was tun mit dieser Schönheit voller Widersprüche, die zwar einerseits unglaubliche Mengen Öl verbrennen konnte, andererseits aber so gut wie unentflammbar war? Ja, William Gibbs hatte es gut gemeint mit dem Brandschutz: Nicht ein Stück der Inneneinrichtung, mit Ausnahme des Steinway-Flügels und ein paar Schneidebrettern in der Küche, war aus Holz gefertigt; 1984, wieder einmal war ein Investorentraum geplatzt, wurde das gesamte Inventar versteigert – und was den Rest anbelangt, möchte man fast meinen, Tina Turner habe eine Hymne darauf verfasst, zumindest, wenn man nicht so ganz genau hinhört: „It’s simply Asbest…“, jener Stoff neben Uran, aus dem in den 50er-Jahren die Träume waren – und der aufgrund seiner kanzerogenen Wirkung entfernt werden musste, wollte man das Schiff wie auch immer weiter verwenden. Den Krebs überließ man dann doch lieber den ukrainischen Werftarbeitern in Sewastopol, die das Innere des Schiffs von 1993 bis 1994 bis auf das blanke Metallgerippe „strippten“. Währenddessen sah man auch zu Hause vielerorts nur noch die Stahlskelette von Fabriken vor sich hinrosten, in denen noch nicht lange zuvor Stahl gekocht, Aluminium gewalzt oder Autos gefertigt worden waren. Die Dinosaurier lagen längst in den letzten Atemzügen. Hilflos mussten sie dabei zusehen, wie mit Software und Mikrochips zwar das große Geld verdient, aber an immer weniger Menschen verteilt wurde. Warum sollte da ausgerechnet unsere Dinosaurierin verschont bleiben? Man glaubte bereits das Totenglöcklein läuten zu hören, als auch dem Investor, welcher sie in die Ukraine verfrachtet hatte, plötzlich der Geldstrom versiegte. Die Schneidbrenner standen schon bereit. Die United States, in der Ukraine in Stücke geschnitten? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

LALAALetzter Anker: Wahnsinn
Dennoch scheint es dem Millionär Edward Cantor wohl gleichgültig gewesen zu sein, ob man ihn einen Schelm nannte, als er sich der bereits ihrer Rettungsboote beraubten Lady erbarmte und sie 1996 kurz vor ihrer Zerlegung zurück in ihr Heimatland schleppen ließ. Seitdem liegt sie vertäut an Pier 82, Delaware River, South Philadelphia. Ihre vorletzte Eigentümerin, die Norwegian Cruise Line (NCL), darf für sich den letzten Platz in der Reihe der Träumer beanspruchen, welche die „Big U“ wieder auf die hohe See entlassen wollten. Nachdem auch dieser Plan an den Klippen kühlen Rechnungswesens zerschellt war, wurden ab Frühjahr 2010 Angebote von Schiffsverwertern eingeholt. Knappe sechs Millionen Dollar wäre der Stahl- und Aluminiumgigant den Schiffsbrechern wert gewesen, hätte da nicht eine Gruppe von Enthusiasten dazwischengefunkt, die sich während der letzten Jahre um Karen Gibbs, die Enkelin des 1967 verstorbenen Schiffskonstrukteurs, zur SS United States Conservancy zusammengeschlossen hatten. Einer ihren prominentesten Unterstützer, die Journalistenlegende Walter Cronkite, trug entscheidend dazu bei, so manch schlafenden Patrioten wachzurütteln und für dieses „Verbrechen an der Geschichte Amerikas“ zu sensibilisieren. Und da war er plötzlich wieder aus der verstaubten Flasche entfleucht, jener so lange verschollen geglaubte amerikanische Geist: Denn was sich während der Folgemonate abspielte, zieht eben dieser Geschichte, zumindest jener der letzten 40 Jahre, eine lange Nase: ‚We’re still alive, you bleak calculators‘, muss sich der Medienunternehmer und Philantrop „Gerry“ H. Lenfest gedacht haben, als er der Conservancy kurzentschlossen 5,8 Millionen Dollar überwies. Die NCL, ob des Medienrummels um ihren Ruf besorgt, überließ den Schiffsenthusiasten ihre „Lady in Waiting“ für die Hälfte des Schrottwerts. Seither lässt die Gruppe nichts unversucht, Investoren zu finden, die der Dame neues Leben einhauchen. Die Rohölvernichtung auf hoher See will man zwar jetzt endgültig den Kreuzfahrtschiffen überlassen, die „United States“ soll aber dennoch auf die große Bühne zurückkehren – in Gestalt eines schwimmenden Mischkomplexes, der vom Museum bis zur Shoppingmall alles bietet, was das moderne Konsumentenherz begehrt. Am liebsten in New York, wo sie 1951 in der Werft von Newport News unter dem Jubel tausender Menschen vom Stapel gelaufen war. Rund 330 Millionen Dollar würde es kosten, das Schiff in seinen alten Glanz zu versetzen. Der Conservancy, die pro Jahr 800.000 Dollar allein für die Fixkosten aufbringen muss, bleiben noch circa zwei Monate; wenn sich bis dahin kein Investor findet, wird es ausgerechnet sie sein, die jenes unwiederbringliche Stück amerikanischer Historie den Schneidbrennern zum Fraß vorwerfen muss.

What so proudly we hailed at the twilight’s last gleaming
Ein Schiff, das den Namen dieses einst so stolzen Landes trägt. Jenen Namen, der es schon so manches Mal vor dem „Untergang“ bewahrt hat. So wie auch die Vereinigten Staaten selbst, die man in Old Europe trotz aller Unkenrufe gelegentlich doch noch mit Begriffen wie Stärke, Stabilität und Optimismus in Verbindung bringt oder – sollte man sich diese Nomenklatur bereits abgewöhnt haben – zumindest etwas weniger unheimlich findet als diese nebulösen, semidemokratischen Schwellenländer. Noch ein letzter Blick zurück. Fast unwirklich erhebt sich die majestätische Silhouette der Big U in den samtroten Abendhimmel – vielleicht bald zum letzten Mal. Doch das wird sich wohl erst in der letzten Minute entscheiden in diesem eigenartigen Land, das doch immer wieder für eine Überraschung gut war, ob sie uns nun gefiel oder nicht. Ganz habe ich die Hoffnung auf die „unbegrenzten Möglichkeiten“ noch nicht aufgegeben, und sei es, dass sie sich in Form des nächsten „wahnsinnigen“ Millionärs erfüllt. Zu wünschen wäre es beiden, der und den United States. Gelänge Letzteren doch gerade in Zeiten der „Promised Zones“ durch den Erhalt dieses beeindruckenden Symbols einstiger Stärke und Glorie der sensationelle Coup, zwei denkbar verfeindete „Geschichtsfliegen“ mit einer Klappe zu schlagen: Fliege 1: „Dem Volk muss seine Geschichte gegenwärtig bleiben, wenn es sich nicht verlieren soll.“ (Karl Simrock) Fliege 2: „Denkmale überragen die Vergangenheit.“ (E. H. Bellermann). Don’t promise, just act. Good Luck, United States.

SS United States Conservancy
Gegründet im Jahr 2009, verfolgt die SS United States Conservancy das Ziel, Amerikas einstiges Flaggschiff zu erhalten und Investoren für dessen Sanierung und anschließende Nutzung als Hotel-, Museums- und Kulturschiff zu akquirieren. Die Vorsitzende Susan Gibbs, Enkelin des 1967 verstorbenen Konstrukteurs des Schiffes Francis William Gibbs, konnte neben zahlreichen prominenten Fans der „Big U“ wie beispielsweise der ehemaligen Profi-Tennisspielerin Billie Jean King auch einflussreiche Geschäftsleute für ihr Anliegen begeistern, die SS United States als Symbol für die einstige Stärke und Glorie Amerikas vor dem „Untergang“ zu bewahren. Das Jahr 2016 wird allen Anzeichen nach zum Entscheidungsjahr für das Schiff und die Conservancy als dessen Eigentümer, da der finanzielle Spielraum der Schiffsenthusiasten aufgrund der hohen Liege- und Versicherungsgebühren mittlerweile weitgehend ausgeschöpft ist. Jeder kann über
www.ssusc.org/give-and-join/donate einen Beitrag dazu leisten, dieses monumentale Technik- und Geschichtsdenkmal auch für die nachfolgenden Generationen zu bewahren.
Text: Christian Götz; Fotos: Tante Götz & SS United States Conservancy