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Wann wenn nicht jetzt?

Der Brexit hat Europa erschüttert, in Frankreich ist es Marine Le Pen immerhin gelungen, in die Stichwahl zu kommen und bei uns droht der Einzug der AfD in den Bundestag. Die europäische Idee scheint zu scheitern. Wo sind eigentlich die sogenannten Denker, die uns die Welt erklären sollen, wenn man sie mal braucht? Sören Brandes ist so einer. Der Historiker ist 27 und kann sich nur noch mit Mühe auf seine Dissertation konzentrieren, seit die Welt aus den Fugen gerät. Er promoviert am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sowie an der Freien Universität in Berlin und hat ein Onlinemagazin ins Leben gerufen, in dem junge Geistes- und Sozialwissenschaftler Themen wie Globalisierung und Migration diskutieren. Aktuell gibt es einen Call for Essays zum Thema „Citizenship and Territoriality“: Warum wird Staatsbürgerschaft immer mit Territorien und Grenzen in Verbindung gebracht? Brauchen wir eine europäische Staatsbürgerschaft? Und was bedeutet supranationales Denken? Wir haben Sören Brandes getroffen und mit ihm darüber gesprochen, wie Politik über Ländergrenzen hinaus funktionieren kann. 

Blickt man in Europa auf den Brexit, Marine le Pen oder die AfD, sieht man einen Rückzug in den Nationalismus. Wie kann man diesen Aufschwung des neuen Rechtspopulismus historisch einordnen?

Wir hatten in den letzten 25 Jahren eine Politik der Alternativlosigkeit, das liberale Modell stand fest. Wir sind damit aufgewachsen und dachten, das bleibt so, die Welt wird tendenziell besser – in unseren Köpfen war das Fortschrittsdenken festgewachsen. Die letzten beiden Jahre aber haben diese Alternativlosigkeit erschüttert. Die Gründe dafür würde ich nicht unbedingt in Ereignissen wie der Flüchtlingskrise oder Terroranschlägen sehen, sondern eher in der Gestaltung der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten. Unsere Institutionen sind noch geprägt von den Ideen des 20. Jahrhunderts, gerade dem Nationalismus. Aber eigentlich hat sich alles schon weiterentwickelt, ist viel globaler, fluider, komplexer geworden: Dieser Mismatch zwischen den alten Institutionen und der neuen Welt, in der wir schon leben – und zwar gerade unsere Generation – scheint für mich das grundlegende Problem zu sein. Die Menschen spüren diesen Riss – und viele flüchten sich deshalb in die alte Welt zurück.

In den letzten 30 Jahren wurde gerade in den Geschichtswissenschaften viel über Nationalismus geforscht und diskutiert. Was kann man daraus lernen?

Dass Nationen konstruiert sind. Das heißt, dass sie nicht schon immer da waren, sondern eine spezifisch moderne Konstruktion darstellen, die im 18. Jahrhundert entstand. Mit Benedict Anderson gesprochen ist Nation eine imagined community, von der man vielleicht 50 Menschen gut und 500 vage kennt, den Rest muss man sich vorstellen. Diese Vorstellung wird täglich konstruiert und erneuert, zum Beispiel durch die Medien. Aber es gibt ja auch andere imagined communities – wie zum Beispiel Religionsgemeinschaften. Muss also ausgerechnet die Nation die Gemeinschaft sein, mit der wir uns solidarisch fühlen? Es gab schon immer Austauschprozesse über nationale Grenzen hinweg und es gab schon immer Migration. Die Nation ist letztlich eine Fiktion, auf die wir uns zeitweise geeinigt hatten.

Was ist so beunruhigend an der Globalisierung? 

Dass Demokratie national stattfinden muss, ist fest verankert im Denken vieler Menschen. Doch viele unserer Probleme sind in diesem Rahmen nicht lösbar, denn immer mehr globale und europäische Integration führt dazu, dass auf nationaler Ebene weniger Politik gestaltet werden kann. Das frustriert viele, weil es das Gefühl auslöst, nicht mehr mitbestimmen zu können. In Deutschland kommt dazu, dass sich hier seit den 80er Jahren eine große Verschiebung abgespielt hat. Viele Positionen, die heute die AfD vertritt, waren damals Mainstream und wurden von wichtigen Politikern der CDU vertreten oder auch von der Bild-Zeitung. Die CDU hat lange mit rechten Sprüchen Wahlkampf gemacht; Karrieren wie die von Roland Koch und Günther Oettinger basierten im Wesentlichen auf ausländerfeindlichen Stammtischparolen. Seit den 2000er Jahren ist das allmählich in die Brüche gegangen. Spätestens in der Flüchtlingskrise wurde klar, dass CDU und Springerpresse mittlerweile anders ticken. Diesen Umschwung haben durchaus einige Wähler, aber eben nicht alle mitgemacht; die haben dann gemerkt, dass ihre Meinung auf einmal nicht mehr „Mainstream“ ist – das löst ein Gefühl der Entmachtung aus und macht viele Menschen furchtbar wütend.

Was kann man gegen Unzufriedenheit und Wut tun?

Derzeit regieren in Europa vor allem Konservative, und die versuchen es mit Beschwichtigung: Sie ziehen hier eine Mauer hoch, richten dort wieder Grenzkontrollen ein und hoffen, dass enttäuschte Wähler sich dadurch wieder ernst genommen fühlen. So ertrinken aber tausende Menschen im Mittelmeer; in Griechenland sterben nicht zuletzt dank dem kurzsichtigen Nationalismus im Europäischen Rat viele Alte und Kranke, weil die Gesundheitsversorgung nicht mehr funktioniert. Das kann einfach nicht die Antwort sein. Es wird auch nicht funktionieren – wer rechts wählen will, wird lieber das Original wählen als die schlechte Kopie. Es gibt aber auch viele Menschen, die einfach grundlegende Veränderungen wollen. Und deshalb inszenieren sich die Rechtspopulisten gezielt als sogenannte Alternative. Meine Idee ist deshalb, eine starke dritte Alternative zu bieten, die sich radikal von dem unterscheidet, was bisher diskutiert wird: eine linksliberale Alternative mit neuen Ideen. Warum haben wir keine demokratischen Strukturen und sozialstaatlichen Mechanismen auf supranationaler oder globaler Ebene? Genau solche progressiven Visionen brauchen wir jetzt, damit klar wird, dass es noch eine andere Alternative zum Rechtspopulismus gibt als das Herumwursteln im Status quo.

Was wäre ein konkretes Beispiel dafür? 

Etwa progressive Handelsabkommen. Die EU wird ja wahrscheinlich einen neuen Freihandelsvertrag mit Mexiko aushandeln. Da könnte man sozialstaatliche Mechanismen einbauen. Man könnte zum Beispiel sagen, wir protestieren nicht dagegen, wenn da ein Mindestlohn eingebaut wird. Einer, der für die EU und Mexiko gelten würde und verhindert, dass Firmen abwandern und Arbeitslose zurücklassen.

Und was könnte so eine sozialstaatliche, supranationale Maßnahme innerhalb Europas sein?

Zum Beispiel eine europäische Arbeitslosenversicherung oder ein europäischer Mindestlohn. Wie das realisierbar ist, darüber müssen wir nachdenken. Und eigentlich müssten wir auch schon darüber nachdenken, wie wir in Zukunft mit künstlicher Intelligenz und Robotern umgehen, weil nämlich schon bald, eigentlich schon jetzt, sehr viel Arbeit wegfällt. Zum Beispiel wäre dann die Einführung einer Robotersteuer auf europäischer Ebene sinnvoll, um die wegfallende Lohnsteuer auszugleichen und auf lange Sicht sogar ein europäisches bedingungsloses Grundeinkommen zu ermöglichen.

Ein Vorschlag von Dir ist, Europa politisch zu stärken. Wie soll das konkret aussehen?

Europa muss stärker demokratisiert werden. Das Europäische Parlament hat zu wenig Rechte, während der Europäische Rat und die Europäische Kommission demokratisch schlecht legitimiert sind. Zum Beispiel sitzen im Rat nur die nationalen Regierungen, während die nationalen Oppositionen keine Rolle spielen. Momentan ist aber der Rat die mächtigste Institution. Deshalb sollten das Parlament und die Kommission gestärkt und die Kommission dem Parlament untergeordnet werden, damit wir eine voll ausgebildete parlamentarische Demokratie auf europäischer Ebene bekommen. Dann würden sich die Menschen auch weniger machtlos fühlen, da sie das Parlament als dann stärkste Institution direkt wählen.

Du hast das Magazin „Unsere Zeit“ mitgegründet. Wie kam es dazu und was sind zentrale Inhalte? 

2013 habe ich mich mit ein paar Freunden zusammengetan und langsam wurde es dann größer. Wir wollten unsere Ideen und Visionen festhalten und versuchen, die junge Generation zu politisieren. Wichtige Themen sind Europapolitik, Analysen zum Rechtspopulismus und Nationalismus oder auch Generationen-politik. Mittlerweile geht es deutlich über das Magazin hinaus, das aber immer noch als Denkfabrik funktioniert.

Sind neben dem Magazin andere Aktionen geplant?

Wir wollen vor allem die junge Generation mobilisieren. Wir stellen zum Beispiel einen Direktkandidaten in Stuttgart für die Bundestagswahl auf. Das soll zeigen, dieser Typ – Steffen Schuldis heißt er – ist nicht bekannt, er ist kein Kandidat einer Partei, sondern Politik ist etwas, woran wir alle teilnehmen können, warum sich also nicht mal aufstellen lassen? Außerdem haben wir Ende Februar unser Call for Essays zum Thema „Citizenship and Territoriality“ gestartet. In unserer Welt werden Staatsbürgerschaft und Territorialität immer zusammengedacht, und diese Selbstverständlichkeit wollen wir auflösen. Zum Beispiel leben in Deutschland Millionen Ausländer, die nicht wählen dürfen, nur weil sie in einem anderen Land geboren wurden. Viele dieser Menschen sind seit Jahrzehnten in Deutschland, sie zahlen Steuern, dürfen aber nicht mitentscheiden: Das ist taxation without representation. Und wir wollen jetzt von Leuten aus den unterschiedlichsten Disziplinen hören, wie man Staatlichkeit, Bürgerrechte und Demokratie vielleicht anders denken kann.

Brauchen wir eine europäische Staatsbürgerschaft, die über nationale Territorien hinweggeht?

Ja, ich würde dafür plädieren. Einer unserer Mitautoren ist Brite und gerade nach Florenz gezogen, um dort an seiner Dissertation zu schreiben. Aber jetzt muss er fürchten, dass er seine Rechte verliert, nämlich im EU-Ausland zu leben und zu arbeiten oder auf kommunaler Ebene zu wählen. Er schlägt deshalb vor, eine europäische Staatsbürgerschaft zu schaffen, die unabhängig von Nationalstaaten funktioniert – sodass man sich entscheiden kann, ob man „EU-Bürger“ sein will oder nicht. Das finde ich eine sehr spannende Idee.

Was ist Deine Vision einer Welt über territoriale Grenzen hinweg?

Die Menschheit als imagined community zu denken und einen Weltstaat zu schaffen, in dem föderale Demokratie herrscht. Warum muss gerade die Nation die Gemeinschaft sein, die wir uns vorstellen? Das kann ja etwas viel Größeres sein. Wieso nicht so etwas wie die Menschheit? Das klingt zur Zeit zwar völlig utopisch, ist aber gar nicht so weit hergeholt – es gibt ja schon internationale Organisationen wie die UN oder Elemente globaler Staatlichkeit wie den Internationalen Gerichtshof. Wir denken schon jetzt in globalen Kategorien wie den Menschenrechten. Jetzt brauchen wir nur noch mehr internationale Institutionen, die diese Rechte tatsächlich durchsetzen – und ein Fußvolk, das für diese Ideale auf die Straße geht.

Was können wir dafür tun?

Viel! Geht wählen, geht auf die Straße, startet eine Kampagne, stellt Euch für die Bundestagswahl auf, bringt Euch in den politischen Prozess ein – oder kommt zu Unsere Zeit (lacht). Es kann doch nicht sein, dass unsere Zukunft von rechten Hetzern zerstört wird, nur weil die lauter sind als wir. Laut sein können wir auch!

Interview: Johanna Juni; Foto: Julia Weiher