GESELLSCHAFT

LEBENDE BÜCHER

Seit September 2017 gibt es ein neues soziales Projekt in unserer Stadt. Die Rede ist von „livebooks | Fragen. Verstehen. Wertschätzen.“, einem neuen Angebot des Fördervereins Wärmestube e. V. Mit den Stichworten „Fragen. Verstehen. Wertschätzen.“ machen die Veranstalter bereits deutlich, worum es ihnen bei dem Projekt geht: um ein Miteinander statt Übereinander, um eine Begegnungen der etwas anderen Art.

Im Mittelpunkt des Projekts stehen „lebende Bücher“. Dabei handelt es sich um Menschen, die meist unter besonderen Lebensumständen aufgewachsen sind oder denen außergewöhnliche Lebensschicksale zuteil wurden. So wie auch Michael S. (Name geändert)

Wie bist du auf livebooks aufmerksam geworden?

Teilnehmer: Ich kannte den Förderverein bereits aus der Schmökerkiste, in der ich seit längerer Zeit aktiv bin. Adrian [Anm.: Betreuer des Projekts] sprach mich dann gezielt darauf an, ob ich mir vorstellen könnte, an dem neuen Projekt mitzuwirken. Anfangs war ich skeptisch, doch mit der Zeit sah ich auch, dass es wichtig ist, darüber zu reden, und dass es auch mich im Umgang mit meiner Erkrankung weiterbringt.

Michael S. leidet seit fast 20 Jahren an den Symptomen einer schizophrenen Psychose. Heute ist er weitestgehend stabil, auch wenn es hin und wieder vorkommt, dass „die Psyche plötzlich verrücktspielt“, wie er sagt. „Die meisten ‚normalen‘ Menschen können sich das gar nicht vorstellen, wie es ist, mit einer solchen Krankheit zu leben. Für die sind wir halt verrückte Spinner“, sagt Michael. Auf die Frage, ob er eine wirkliche Chance im Leben hatte, antwortet er, er wisse es nicht. „Sicher hätte ich ohne meine Erkrankung ein gesünderes Leben gehabt und hätte vielleicht ein ordentliches Studium absolviert; so musste ich immer wieder Rückschläge einstecken und mich privat weiterbilden – aber ich habe nie ernsthaft darüber nachgedacht, wie ein Leben ohne psychische Belastung für mich ausgesehen hätte. Ich weiß es nicht.“

Auch Manfred M. hat, als lebendes Buch, eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen. Er war lange Jahre neben seinem Beruf sehr aktiv in seiner Gemeinde. 1982 wurde er dort sogar zum Bürgermeister gewählt. Doch irgendwann konnte er dem ganzen Druck nicht mehr standhalten: Er fühlte sich zunehmend erschöpft, griff immer öfter zum Alkohol und verlor schließlich den Kampf gegen ihn. Was darauf folgte, war eine Achterbahnfahrt der Emotionen, der Wahrheiten und Lügen. Ein Kampf voller Wut, Tränen und Niederlagen – und eine Erzählung vom ungebrochenen Willen, immer und immer wieder aufzustehen.

Schicksale sind keine Einzelfälle
So wie Manfred M. und Michael S. werden viele Menschen in unserer Gesellschaft von besonderen Herausforderungen im Leben auf die Probe gestellt. Die Lebensgeschichten der einzelnen Akteure sind dabei aber keine Einzelfälle. Zum Thema Alkohol beispielsweise zeigt der Drogen- und Suchtbericht 2016 der Bundesregierung, dass in Deutschland etwa 1,7 Millionen Menschen als alkoholabhängig gelten, bei weiteren rund 1,6 Millionen Menschen liegt Alkoholmissbrauch vor. Darüber aufzuklären, ist den Teilnehmern besonders wichtig.

Wieso nehmen Sie an dem Projekt teil und was ist ihnen dabei wichtig?

Teilnehmerin: Ich möchte gerne möglichst vielen Menschen die Gefahren einer Drogen- und Alkoholsucht näherbringen und wie man damit umgeht, denn die wenigsten wissen, dass Sucht eine Krankheit ist.

Teilnehmer: Ich finde die Idee, Menschen mit ihren spezifischen Lebensgeschichten mit dem Bild eines lebenden Buches zu betrachten, sehr gut. Ein Buch gibt dem Leser die Möglichkeit, an den darin festgehaltenen Erfahrungen wie etwa Krisen und deren Überwindung Anteil zu nehmen – und womöglich auch für sich selbst etwas Hilfreiches daraus abzuleiten. Die Gelegenheit, solche „lebenden Bücher“ mit „Lesern“ zusammenzubringen, die ja wiederum auch eigene Geschichten zu erzählen haben, finde ich sehr faszinierend.

Auch das Thema „psychische Erkrankungen“ ist keine Angelegenheit für „Spinner“. In ihrem Bericht vom März 2017 schreibt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), dass in Deutschland jedes Jahr etwa 27,8 % der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen sind.Das entspricht rund 17,8 Millionen Menschen.  So ist es auch ausgesprochenes Ziel des Projekts, eine etwas andere Aufklärung zu betreiben und die Menschen unserer Stadt für so manches tabubehafteten Themen zu öffnen und zu sensibilisieren.

Wie muss man sich das „Livebooks“-Projekt nun konkret vorstellen?
Eine livebooks-Veranstaltung läuft wie folgt ab: An einem Veranstaltungstag sind die Menschen, die ihre Geschichten gerne teilen möchten, gemeinsam mit ehrenamtlichen Helfern, den sogenannten Bibliothekaren, vor Ort, um Buch und Leser zusammenzubringen. Als erster Einblick, was einen erwartet, liegt ein Katalog aus, in dem ein Titel und kurzer Klappentext bereits die Geschichte des lebendigen Buches umreißt. So können neugierige Leser in den Büchern stöbern und sich anschließend, ähnlich einer klassischen Bibliothek, für die Geschichte ihres Interesses auf eine Liste schreiben lassen. Anschließend können Buch und Leser zusammengebracht werden und sich nun für maximal 20 bis 30 Minuten austauschen. Es ist ausdrücklich erwünscht, dass ein Gespräch zustande kommt, sodass die Leser angehalten sind, sich einzubringen und ihre persönlichen Fragen zu stellen. Nur so kann eine Begegnung auf Augenhöhe stattfinden – und der Raum entstehen, um die Menschen hinter den Etiketten obdachlos, suchtkrank oder Asylbewerberzu verstehen und wertzuschätzen.

Was würden Sie unseren Lesern noch mitteilen wollen?

Teilnehmerin: Seid offen für etwas Neues und seid bereit, Euren Mitmenschen zuzuhören.

Teilnehmer: Scheut  nicht den Versuch, Euch selbst als gutes, sehr lesenswertes Buch zu verstehen, das mit einem anderen lebenden Buch in Austausch tritt.

Möchten Sie gerne mitwirken oder „livebooks zu sich oder Ihrer Veranstaltung einladen? Weitere Informationen sowie die aktuellen Veranstaltungstermine erhalten Sie auf:
www.foerderverein-waermestube.de

Text: Adrian-Ernesto Jiménez; Foto: Sebastian Schoknecht