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Auf Augenhöhe- Müdigkeit. Erschöpfung. Depression.

Willkommen im neuen Jahr. Was sich zwischen den Jahren
andeutete, wird jetzt Wirklichkeit. Das neue Jahr startet nicht nur verkatert und grau, sondern auch ohne Gnade.

Perspektivlos, trotz all der Vorsätze – und hoffnungslos, trotz all des Neubeginns. Von Sydney bis New York, von Plauen bis Aachen. Gewollt oder nicht, jeder fängt neu an und man selbst steckt mittendrin. Dem Jahresbeginn entzieht sich niemand, und so beginnt das neue Jahr, wie das alte aufgehört hat, es stirbt. Im Gegensatz zum Menschenleben ist das Jahresleben klar strukturiert, designierter Start und designiertes Ende. Das Jahr hat keine falsche Hoffnung, aber auch keine falsche Angst.

Es liegt 365 Tage im Sterben und selten spürt man das so intensiv wie am Jahresbeginn. Die Festtage sind abgehandelt, die alten Freunde wurden gesehen und der alten Feinde wurde gedacht. Dopamine sind verbraucht, Adrenaline nicht wieder aufgefüllt. Man nüchtert aus. Der Blick wird endlich scharf und die Welt wird grau. Ohne Luftschlangen und Glühweinnasen verliert das Leben seine Weichzeichner. Wenn die bunten Lichterketten erloschen sind, die bunteren Feuerwerke abgebrannt und der Rauch sich verzogen hat, beginnt das neue Jahr so, wie der Mensch es am wenigsten erträgt: ehrlich. Kalt, dreckig, nüchtern. Kein Grund, sich auf etwas zu freuen, außer, dass es voran geht – das Jahr. Es ist die Zeit, in der der direkteste Umgang mit sich und der Welt möglich ist, denn alle sind jetzt ungeschminkt. Mensch. Leben. Welt.

Doch der Mensch verkennt die Gelegenheit und flüchtet lieber von einer Wochenendfeierei zum nächsten schweren Kopf und hofft so, die Zeit zu überbrücken, bis die Realität nicht mehr ganz so grell leuchtet. Der Alltag assistiert. Die Mo- bis Fr-Aufreger im Boulevard lenken ab und die Bundesligarückrunde naht. Sanfte Schmerzmittel für das gequälte Gemüt. Der Konsummuskelkater vom Jahresende vergeht und Linderung stellt sich ein.

Die Zeit, stets unbestechlich, schleppt den Menschen zu den ersten Verpflichtungen des noch jungen Jahres. Vom Neujahrsschwimmen zu den heiligen Königen und vom Après-Ski zur ersten Prunksitzung wandelt er mehr, als dass er geht. Die fünfte Jahreszeit ist ohnehin Selbstläufer, auch ohne ihn. Im Anschluss wird gefastet. Für den Geist und für die Knochen, nur kurz unterbrochen vom Maßkruggrinsen der Frühjahrsfeier. Tradition schlägt Glauben. Alles ist erlaubt, damit er wieder in die Spur findet, der Mensch. Und wenn die ersten Krokusse blühen, und die letzten Vorsätze verblassen, dann hat er es bald wieder geschafft. Auf Fasten folgt Fastenbrechen und fast … wie von selbst kommt Schwung in des Menschen Neujahrslethargie. Schwung für die ersten seelischen Gehversuche.

Hinaus in die Natur. Ins Grüne. Weg von der Stadt und ab in die Weinberge. Mal mit, mal ohne Bollerwagen – aber ab jetzt mit frischer Zuversicht, die ihn von einem Weinfest zum nächsten trägt. Mit den Temperaturen steigen die Hormonspiegel und steigt die Laune, bis im Sommer ihr Zenit erreicht ist. Der Zenit als Plateau, als Komfortzone, die er nicht kampflos wieder aufgeben wird.

Der Mensch ist jetzt wieder auf Augenhöhe mit dem Leben und nichts weniger steht ihm zu. Nichts weniger als das hat er sich verdient – und nur er bestimmt wie lange das andauert. Er bestimmt wie lange ihm das gefällt und wie lange dieser Sommer anhält. Meteorologie ist eine Frage der Überzeugung, und wenn es nach ihm geht, kann das Leben mit seinem jämmerlichen Jahr noch lange warten, bis der Herbst beginnt. Und wenn schon, dann wird der Herbst golden und warm und wunderwunderschön. Und wenn nicht, dann ist´s doch immerhin zünftig, im letzten Bierzelt des Jahres. Zünftig und die Menschen sind froh, haben rote Gesichter und rote Nasen, genauso wie am Weihnachtsmarkt. Da steht er jetzt nämlich, in der Menge und im dicken Mantel – und wie von selbst bestellt er noch zwei Glühwein. Er spürt die warmen Becher an den Handschuhen, schmunzelt und glaubt noch immer, er hätte alles im Griff. Das Leben im Griff.

Der Mensch ist sich zwar Antworten schuldig, dem Jahr Vorsätze und dem Leben Veränderungen … aber er hat überlebt.

Bis zum nächsten Tod.

Text: Michel Mayr; schnurrzpiep.de