EDITORIAL, GESELLSCHAFT, SEHEN-HÖREN-FÜHLEN

BETT & WIN

Er dümpelt bereits seit Jahren zwischen Glücksratgeber und „Die Milchmörderin aus Smörrebröd“ vor sich hin. Der „Schinken“. Hygienisch einwandfrei, weil nie benutzt. Zu schwer, zu sperrig, zu monumental, diese Goethes, Hebbels, Stifters und Co. Wirklich? Wir haben sie trotzdem aus dem Regal gezogen, fanden Bekanntes, Unbekanntes, Wahnsinniges – kurz: erstaunlich gute alte Seiten. Aber lest selbst:

Iwan Gontscharow: Oblomow „Gooontscharow! Oblomow! Kenn’se nich? Na, dann könn’se ja gleich Design bei der Müllabfuhr studieren!“ Diese herzliche Leseempfehlung meines ehemaligen Literaturdozenten verfolgte mich irgendwie jahrelang. Ich trug sie vor mir her, schob, verdrängte, (er-)fand Ausflüchte … und „handelte“ dabei unwissentlich ganz im Sinne des Protagonisten. Denn so gut wie nichts anderes „tut“ auch der lethargische Adelsspross Ilja Iljitsch Oblomow über die gesamte Erzählung hinweg, die bei Literaturfans weltweit Kultstatuts genießt.

Handlung – wozu?
Ein Handlungsträger, der nicht handelt. Das muss man sich erstmal trauen. Zumal es wahrlich höchster Erzählkunst bedarf, den Plot eines über 700 Seiten dicken Romans hauptsächlich im und um das Bett der Hauptfigur anzusiedeln, ohne den Leser dabei selbst komplett zu „oblomowisieren“. An der „Handlung“ kann es hier naturgemäß schonmal nicht liegen; die wenigen Ereignisse, welche sich hauptsächlich um Oblomow herum ereignen (von einem (!) Orts- bzw. Bettwechsel abgesehen) schlage der geneigte Interessent in Kindler, Wiki und Co. nach. Nein, der Zauber dieses Werks liegt woanders: Es sind, nicht nur für die Historiker unter uns, die grandiosen Innenansichten des Repräsentanten einer maroden Oberschicht, die mit den Anforderungen der Moderne nicht mehr Schritt zu halten weiß – wunderbar gespiegelt unter anderem in Oblomows Tagträumen von seiner Kindheit auf dem großen Familien-Landgut, dessen (zeitgemäße!) Bewirtschaftung er nun sträflich vernachlässigt. Im geschichtsenthobenen Schlaraffenland von einst sorgte die (heute würde man sagen) Helikoptermutter für Ilja Iljitschs Rundum-Gefahr-und-Sorglos-Paket – und legte damit den Grundstein für lebenslange Antriebsschwäche und Realitätsverweigerung.

Lieber Nachbar
Doch wie sieht sie eigentlich aus, jene Realität, der sich Oblomow so konsequent entzieht? Die Antworten darauf liefert Gontscharow wieder mit grandioser Figurenzeichnung. Da ist zum Beispiel der „Mann unbestimmten Alters (…) weder groß noch klein, weder blond noch brünett, weder hübsch noch hässlich. Die einen sagten, er hieße Iwanow, andere nannten ihn Wassilijew oder Andrejew, wieder andere dachten, sein Name sei Alexejew. Sagte man einem Fremden, der ihn zum ersten Mal sah, seinen Namen, vergaß der ihn sofort wieder, auch sein Gesicht vergaß er. (…) Trägt man ihn im Amt dies oder jenes auf, so macht er es so, dass es dem Vorgesetzten jedes Mal schwerfällt, seine Arbeit zu beurteilen; er sieht sie sich an, liest und liest und kann dann nur sagen: „Lassen Sie es hier ich werde es mir später anschauen …“ Er hat weder Freunde noch Feinde, dafür eine Menge Bekannte. (…) Dieser Alexejew, Wassilijew, Andrejew (…) ist gewissermaßen ein bruchstückhafter, unpersönlicher Fingerzeig auf die Menschenmasse, ein lautloser Widerhall, ein matter Abglanz.“ Respekt, das hat gesessen. Willkommen in der Gegenwart! Willkommen im weißen Einfamilienhaus-Neubau, willkommen in der Welt der gefälligen Reduktion, der Duckmäuser, Nachplapperer, SUV-Fahrer und sonstigen Stromschwimmer.

Wenig Lärm um nichts
Und das war nur eine der Gestalten, die Oblomow in seinem Schlafzimmer heimsuchen. Da wäre natürlich noch, auf der Freundesseite, der es stets gut meinende und vor Gesundheit nur so strotzende Vertreter des abendländischen Aktivitätsmodus (hier lustigerweise auch noch ein Deutschrusse namens Stolz), wiederum konterkariert von verschiedenen hinterkünftigen Gestalten, die aus der Naivität des Protagonisten schamlos Profit ziehen. Belanglose Kleinbürger, kaum weniger belanglose, aber dafür umso „vitalere“ Gutmenschen mit maßgeschneiderten Lebensglück- und Ernährungsplänen, bauernschlaue Profiteure – klingt irgendwie nicht nur nach der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts … Spätestens am Ende dieses Meisterwerks dürften sich die wenigsten über die allgegenwärtige Oblomowerei ausgerechnet derjenigen wundern, die eigentlich das geistige Rüstzeug besäßen, unsere Gesellschaft in eine lebenswertere Zukunft zu führen. So ist es ausgerechnet Stolz, der nach Oblomows Schlaganfall-Tod die ganze Tragik dieser hochaktuellen Geschichte bedauernd auf den Punkt bringt: „Er ist um nichts zugrunde gegangen!“ Über dieses Nichts sollten wir uns dringend Gedanken machen …

Iwan Gontscharow / Oblomow/ Neu übersetzt von Vera Bischitzky / dtv

Text: Christian Götz