GESELLSCHAFT

MY BIG FAT ITALIAN WEDDING

Ein Leben ohne Pasta? Möglich, aber sinnlos. Dazu trinke ich am liebsten staubtrockenen italienischen Rotwein, mit dem man aufgrund seiner teerartigen Konsistenz auch so manche kampanische Schlaglochpiste flicken könnte, bestelle in der besten Caffè-Bar Würzburgs am Grafeneckart zwei CappucchinI – und amüsiere mich derweil über die zutiefst deutsche Anstehkultur der anderen Gäste, die sich brav in einer Reihe vor der Kasse platzieren, anstatt einfach lässig an der vollkommen leeren Bartheke links auf ihr Heißgetränk zu warten.

Und – wer hat’s gemerkt? Natürlich schreibe ich „Caffè“, weil ich weiß, das man das in Italien nunmal so schreibt. Insofern: absolut schuldig im Sinne der Anklage – ja, ich bin italophil, vom Scheitel bis zur Stiefel-Sohle (mio!). Warum dieses faszinierende Fleckchen Erde seit Jahrhunderten eine derartige Anziehungskraft auf uns auch emotional gelegentlich so frostgebeutelte Nordmänner und -frauen ausübt – darüber haben sich klügere Menschen als ich bereits den Kopf zerbrochen.  Natürlich ohne eine veritable Antwort zu finden. Vermutlich macht genau das den ungeheuren Reiz Italiens aus. Es ist irgendwie … unfassbar. Unfassbar schön, unfassbar charmant, kurios, absurd, ja, gelegentlich auch unfassbar fragwürdig. In jedem Fall aus deutscher Perspektive unfassbar undeutsch.

Doch wie bei vielen anderen typischen Touristenzielen dieser Welt wird die Sache auch im Falle von Italien erst so richtig interessant, wenn man einen Blick hinter die gigantische Klischee-Kulisse wirft, die sich in den vergangenen 40 Jahren vom Gardasee, dem Laggo Maggiore und der deutschen Toskana-Kolonie aus bedrohlich realitätsverzerrend Richtung La Germania aufgetürmt hat. Denn zwischen all den Kreuzfahrtkolossen, weichgezeichneten Reisereportagen mit Titeln wie „La Dolce Vita“ oder Jamie-Oliver-So-einfach-geht-echte-italienische-Pasta-Kochbücherschinken hat tatsächlich noch eine andere Version von Italien bis in unsere Zeit überdauert. Ein Italien, in dem die Menschen jeden Tag ihr ziemlich gewöhnliches Leben leben – und dabei im Grunde hin und wieder gar nicht so viel anders sind als wir Deutschen.

Bis zu dieser Erkenntnis war es allerdings ein ziemlich langer Weg. Ein 1.754 Kilometer langer Weg, um genau zu sein. Von Würzburg in ein winziges Dorf in der nicht weniger winzigen süditalienischen Region Molise. Molise? Bevor der ein oder andere Leser jetzt hastig das Register seines 9,90-Euro-Die-besten-Reiseziele-in-Bella-Italia (mit-Insidertipps!) aufschlägt: Molise ist für Italiener in etwa das, was für Deutsche der Hunsrück ist. Es ist bekannt, dass diese Gegend auf der Landkarte prinzipiell existiert, irgendwo „da hinten/drüben/unten“; doch weshalb man nun ausgerechnet dorthin fahren sollte, wo man doch auf der aldn Mainbrügge a schöns Brüggnschöpple drinkn könnd …?

Nun, diese Frage ließ sich in meinem Fall recht einfach beantworten. Der Grund, weshalb ich den beschwerlichen Weg in diese zweitkleinste, wunderbar ursprüngliche Region Italiens an der Adriaküste, eingebettet zwischen den Abruzzen, Latium, Kampanien und Apulien, auf mich nahm, war – natürlich – die Liebe. Gemeinsam mit meiner Freundin, die als Archäologin im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts regelmäßig nach Molise reist, wurde ich dort Anfang Oktober auf eine italienische Hochzeit eingeladen. Und wenn dich jemand auf eine italienische Hochzeit einlädt, dann fährst du gefälligst dorthin. Dieses Angebot kannst du definitiv nicht ausschlagen.

Im Land des guten Geschmacks
Der Kellner bringt Essen. Schon wieder. Leicht angeschickert blicke ich über meinen ungesund gewölbten Bauch nach unten auf den Teller mit Meeresfrüchte-Nudeln und denke mir: Ein Leben ohne Pasta – möglich, und zum jetzigen Zeitpunkt absolut erstrebenswert. Der Zeitpunkt: 18 Uhr am frühen Abend im Gastraum eines bis zum Bersten gefüllten Landrestaurants in der molisanischen Pampa. Um mich herum fechten die andern rund 400 (!) überwiegend italienischen Gäste einen Kampf aus, wer a) mehr essen b) lauter reden oder c) länger auf den Tischen tanzen kann, während er dabei isst und ziemlich laut redet respektive singt. Die Szenerie wirkt reichlich surreal, obwohl ich mir meine erste italienische Hochzeit in etwa so vorgestellt hatte. Wieviele Stunden ich schon esse, vermag ich nicht zu sagen. Angefangen hat alles, das weiß ich noch, irgendwann am frühen Vormittag. Im Haus des Bräutigams hatte sich die Hochzeitsgesellschaft zum „Buffettino“ eingefunden, dem „Buffetchen“ sozusagen. Man lasse sich von dem Diminutiv nicht blenden: Mit all den kleinen Snacks, gefüllten süßen Stückchen und lokalen Spezialitäten hätten die versammelten Gäste problemlos auch mehrere Wochen in einer alpinen Gletscherspalte überleben können.

Reichlich überrascht war ich zugegebenermaßen von der ziemlich heterogenen Kleidungswahl der männlichen Anwesenden. Ich hatte mich eigens in meinen eng geschnittenen schwarzen Anzug samt weißem Hemd und schwarzer, schmaler Krawatte gezwängt, um unter den in Sachen Stil ja bekanntlich äußerst versierten Italienern so wenig wie möglich aufzufallen. Zu meinem Erstaunen musste ich jedoch feststellen, dass auch im Heimatland des guten Mode-Geschmacks auf einer Hochzeit ganz ungeniert karierte Sakkos mit roten Hemden und blauen Krawatten kombiniert werden, Letztere selbstverständlich in allerlei aufregend-kreativen Designs, man will ja Akzente setzen! Angesichts dieser mannigfaltigen optischen Eindrücke fühlte ich mich also im tiefsten Italien mit meinem klassisch-schwarzen Anzug nicht nur etwas overdressed, sondern auch ein kleinwenig an manch deutsche Hochzeit erinnert, auf der es grundsätzlich diesen Onkel gibt, ob dessen Garderobenwahl (gelbe Hose, rotes Sakko, grüne Fliege und Schlimmeres) irgendwo auf der Welt ein Modedesigner beginnt, leise in seinen Kaschmirpullunder zu weinen.

Der alte Mann erzählt noch mehr
Mein nächstes Italien-Klischee, das sich während unseres Abenteuertrips nach Molise in Wohlgefallen auflöste, offenbarte sich – wie passend – während der anschließenden Trauung in der schmucken Dorfkirche. Die Zeremonie teilten sich zwei Priester, einer davon schon etwas betagt und, wie das bei älteren Menschen jedweder Nationalität nunmal der Fall ist, reichlich redselig. Nachdem die erste Stunde verstrichen war und der gute grauhaarige Geistliche vor dem Altar noch immer munter über die historischen Hintergründe des Dorfes, der Kirche, der Region, Italiens, der Welt und des Universums referierte, erhielt das opulente Buffettino so früh am morgen plötzlich eine ganz pragmatische Bedeutungssphäre. Offensichtlich war ich allerdings nicht der Einzige, der während des ausufernden Vortrags irgendwann den Faden verlor und von Hungergefühlen geplagt wurde. Mit fortschreitender Zeit stieg der Genuschel-Pegel in den Reihen der Gäste hörbar an; selbst der Onkel des Bräutigams blickte mit typisch-italienisch vor der Brust auf und abwippenden Händen irgendwann in Richtung der Kirchenmusiker, um ihnen zu signalisieren: „Spielt einfach los, dann hört er vielleicht auf zu reden.“ Von stillschweigender italienischer Gottesfürchtigkeit war in diesem Moment nicht viel zu sehen; andere Zuhörer geleitete die sonore Stimme des Priesters gar auf direktem Weg in Morpheus Arme. Ein friedliches Bild – das sich jedoch just nach der knapp zweistündigen Trauung unmittelbar in nervöses Gewusel kehrte. Gratulieren wir gleich oder erst später? Werden jetzt auch schon Fotos gemacht? Warten wir nun alle vor der Kirche auf das Brautpaar? Geht’s dann direkt ins Restaurant? Fragen, die einem auch auf deutschen Hochzeiten regelmäßig im Weg stehen und bei denen die Italiener keinen Deut souveräner sind als unsereins. Aber am Ende klappt doch alles irgendwie – und sogar diese eine, dem Prosecco sehr zugetane Tante mittleren Alters, schafft es auf wundersame Weise zur eigentlichen Hochzeitslocation.

Die Entdeckung der Gelassenheit
Der Kellner bringt Essen – und ich esse. Ich esse Weißbrot und Parmaschinken, Weißbrot und Salami, kleine Fischpasteten, Nudeln mit Meeresfrüchten, Gamberi, gegrillte Pilze, Nudeln mit Tomatensugo, gebratenen Fisch mit Haut, kleine Sardellenfilets, noch mehr Weißbrot, gegrilltes Lammfleisch mit Rosmarinkartoffeln; ich esse und esse und esse, bis mein eng geschnittenes Slim-Fit-Hemd bedrohlich zu spannen beginnt. Ja, auf einer italienischen Hochzeit wird sehr viel gegessen. Das ist kein Klischee, das ist beinharte, gegrillte und mit reichlich Olivenöl eingeriebene Wahrheit. Andererseits habe ich bislang auch von relativ wenigen deutschen Hochzeiten gehört, auf denen irgendwann die Nahrungsmittel ausgegangen wären. Worin sich dieser Höhepunkt des Festes allerdings deutlich von Hochzeitsfeiern in nordischen Gefilden unterscheidet, ist die grundsätzliche Struktur und Ordnung. Beides scheint es nämlich hier, im tiefsten Italien, nicht zu geben. Vieles läuft hier kreuz und quer und parallel. Während die einen im Vorraum am Tresen ihren Caffè trinken und diverse Schnäpse degustieren, genießen die anderen einen der gefühlt 25 Gänge, während wieder andere – wie oben beschrieben – um 18 Uhr auf den Tischen stehen und dabei in allen erdenklichen Tonhöhen alte italienische Schlager zum Besten geben. Erst Sektempfang, dann die allseits beliebten Spielchen, dann Essen, dann Kaffee und Kuchen, dann Spaziergang und/oder Fotos machen, gefolgt von Feier und Käseplatte? Fehlanzeige! Ein klein wenig erinnert mich das Ganze an die eingangs beschriebene Caffè-Bar-Szene: Wo die Deutschen in ihrer angestammten Ordentlichkeit brav vor der Kasse eine (sehr gerade) Schlange bilden, nutzen die Italiener den gebotenen Raum bestmöglich aus, rufen dem nie überfordert scheinenden Barista von überall her ihre Bestellungen zu – bis schließlich jeder zufrieden sein Getränk serviert bekommt. An der mysteriösen Dynamik italienischer Bars mag sich so mancher Mathematiker die grauen Zellen zermartert  haben – was am Ende zählt: Es klappt. Irgendwie.

Irgendwie. Vielleicht gibt es kein besseres Wort, um Italien an sich zu beschreiben. Irgendwie funktioniert das Land, irgendwie funktionieren die Menschen – und irgendwie hat diese italienische Hochzeit funktioniert. Irgendwie wohnten übrigens auch sämtliche (Klein-)Kinder dem Fest völlig selbstverständlich bis 24 Uhr und länger bei, ganz ohne gebuchtes Unterhaltungsprogramm durch einen promovierten Pädagogen mit langjähriger Spielkreis-Erfahrung, wie man das auf manch deutscher Helikop-terelternhochzeit schon gesehen haben soll.

Apropos: In einem halben Jahr heiraten gute Freunde von mir. Derzeit diskutiert das Brautpaar, ob man eher eine Candy- oder doch eine Salty-Bar einrichten solle, schließlich seien die Erwartungen an eine Hochzeit seitens der Gäste heute enorm hoch, habe man in einschlägiger Heiratsliteratur gelesen. Parallelen und Klischees hin oder her: In solchen Momenten wünsche ich meinen Freunden einen Ticken mehr mediterrane Gelassenheit und – ganz italophil – eine ordentlichen Klecks mehr „irgendwie“.

Text: Thomas Brandt; Fotos: Privat