PAULINE
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IN DIESER GEGENWART

leonhard frank – die jünger jesu –
ein samplegedicht von pauline füg

I
in dieser gegenwart

das kind leonhard frank wohnte neben dem tegut
in dem ich immer einkaufen gehe.
„praktisch“ sagt mein freund. „da hatte herr frank es nicht weit.“

 

II
1945 – die stadt war ein grab

1945 – wenn du von den hügeln hinab blicktest über die stadt
dann ist dies das bild:
in der mitte war das grab
und draußen waren die häuser
das sagt mir eine würzburgerin als ich frage
was der unterschied sei
zwischen dem buch und dem wie es war.
sie war 14 in dieser zeit

es gab keine schreibmaschinen mehr in einer stadt
die es nicht mehr gab
und es gab keine klaviere mehr in einer stadt
die es nicht mehr gab
wenn man die glocken leuten hörte von kirchen
die nicht mehr standen

ich weiß nicht, welche kirchen das sein sollen sagt sie
ich konnte nach dem krieg nichts mehr erkennen
die ausgebombten häuschen sahen aus wie honigwaben
aber der tau war jeden morgen derselbe
sogar die sonne
die gesichter der menschen
nur das herz war ein schweres
die muskulatur um den mund
der schwund einer hoffnung
und die art der bewegung
wenn jemand weiter ging
meistens ging jemand fort

man wusste
dass früher oder später alles bezahlt werden muss
auch das glück

im mondlicht sah würzburg aus wie ein riesiges feld
fahlweißer knochen
ein xylophon dem man nicht helfen konnte
keinen ton mehr
es brachte niemand ein wort hervor (sei still!)
unter den häuserbruchstücken war nichts mehr zu finden
was jemals versucht worden war zu suchen

die dächerlosen häuser schnitten gezackte schneesilhouetten
in den kalten himmel
die stadt war tot und vergessen

aber wenn man genau hinhörte
flüsterte jemand
brombeerbüsche und brennnesseln
bei den bienen und schmetterlingen

und man ging hin
im festungsgraben war es ein geheimnis
weißt du das herz schlägt und man kann die blüten schon sehen
zwischen den farnen
den fingern
die nichts greifen können
von dem was war
und alles was ist alles was bleibt
ist eine lupe
ein einmachglas
durch das man blickt
und sieh nur
wie greifbar das licht geworden ist
an dieser stelle
zwischen den brombeerranken

 

III
nenn mir die namen

weißt du
jede straße in der die menschen zerbrochen sind,
hat einen namen
jede straße in der niemand eine gegenwart und eine zukunft hatte
hat einen namen

die menschen
deren namen verloren gegangen sind
sind in der vergangenheit versunken
die vergangenheit ist ein schwerer dunkler blick
ein brütendes meer aus zerborstenen häuserskeletten

da ist jemand und man kann es mit geschlossenen augen sehen
was die menschen tun mit dem eigensinn ihres herzens
für ihr verwundetes herz war alles dasselbe
und das herz tobte
denn nichts mehr auf der welt hätte sie zum weinen bringen können
nichts mehr bewegte sie

„jetzt sind nur noch wir würzburg
nur noch wir“
sagt johanna sagt ruth sagt martin
sagen die eigensinnigen herzen derer die noch sind
sagen die geheimen dinge in kirchenkellern
sagt die geheime versammlung der kinder
die diese zukunft noch wollen umso mehr jetzt umso mehr
und was blieb war:
den staub zu kämmen von den falten des zu weiten schwarzen rockes
von den schwarzen haarknoten
von den wimpern und augenbrauen der heimatlosen
für die es aus tausend und einem grund keinen halt
und keinen weg mehr gibt
den staub zu kämmen vom weg
damit eine richtung vorhanden ist
in die man blicken kann auf der suche nach dem ort
an dem man wohnt
um dann doch
den arm um die taille einer steinfigur zu legen

 

IV
was übrig bleibt

sag mir leere
sag mir
es wäre wie es sein soll
sag mir
ich will warten
mit dem blick eines menschen
der trotz aller enttäuschung immer wieder glaubt

sag mir
da hat jemand sterne verschoben

und dann versprechen wir uns
wenn es dunkel geworden ist wird licht angezündet
Fotos: Archiv Willi Dürnagel

 

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