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Wenn die Flucht in Würzburg endet

ES GIBT MOMENTE IM LEBEN, DIE RÜCKEN ALLES WIEDER IN DIE RICHTIGE PERSPEKTIVE. DANN IST ES PLÖTZLICH EGAL, WELCHES AUTO MAN FÄHRT ODER OB MAN STRESS AUF DER ARBEIT HAT. ALS WIR HESAM TREFFEN, IST DAS SO EIN MOMENT. HESAM IST MIT 16 JAHREN AUS DEM IRAN GEFLOHEN, UM EINE ZUKUNFT ZU HABEN. SEIN GRÖSSTER WUNSCH HEUTE: ARBEIT FINDEN.

Hesam Jafari wohnt nicht mit Hunderten anderen Flüchtlingen in einer Kaserne am Stadtrand. Sein Zuhause ist ein schmuckes Wohnhaus mitten im Würzburger Stadtteil Heidingsfeld. Nichts unterscheidet es von den Nachbarhäusern. Fein säuberlich listet das Klingelschild seinen Namen und die der fünf Mitbewohner untereinander auf. Die Jungs sind zwischen 16 und 20 Jahre alt und haben eines gemeinsam: Sie alle kamen als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland. Nun leben sie im Außenwohnhaus des Don Bosco Berufsbildungswerks.

Hesam ist Afghane. Sein Heimatland bekam er allerdings nie zu Gesicht – seine Kindheit verbrachte er im Iran. Seit dreieinhalb Jahren ist er nun schon in Deutschland. Nachdem Hesam sechs Monate in einer großen Flüchtlingsunterkunft in München zugebracht hatte, führte ihn sein Weg nach Würzburg. Seit 14 Monaten lebt er nun in der heilpädagogischen Wohngruppe, in der die Jugendlichen auf ihre Selbstständigkeit vorbereitet werden. Der 19-Jährige ist zu Anfang schüchtern, er möchte nichts Falsches sagen. Nervös rutscht er auf der kleinen schwarzen Ledercouch im Büro der Betreuerinnen hin und her, zieht seine Basecap tiefer ins Gesicht. „Zum Friseur habe ich es nicht mehr geschafft“, entschuldigt er sich.

Hesam erzählt seine Geschichte chronologisch. Er hat Angst, sonst etwas zu vergessen. 2010 floh er mit seinem älteren Bruder aus dem Iran. Da war er gerade einmal 16 Jahre alt, sein Bruder nur ein Jahr älter. Ihre Eltern, zwei weitere Brüder und ihre Schwester sind dort geblieben. Ihre Familie zu verlassen, fiel ihnen nicht leicht. Aber sie fürchteten um ihr Leben. „Wir mussten gehen, wir konnten es nicht mehr ertragen“, sagt Hesam. Das Leben, das sie führten, war hart. „Jungs und Mädchen werden dort schneller erwachsen – vom Kopf her“, versucht Hesam die Umstände zu erklären. Für Kinder ist es völlig normal, einen Job zu haben. Auch für ihn. Neben der Schule arbeitete er Vollzeit in einer Plastikfirma, 16 Stunden jeden Tag, 7 Tage die Woche.

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Der Entschluss zum Aufbruch

Die beiden Brüder wollen eine Zukunft. „Hier gibt es ein besseres Leben für uns“, ist sich Hesam sicher. Dabei war ihnen egal, wo sie am Ende landen würden. „Hauptsache Europa“, sagt Hesam. „Welches Land besser ist, wussten wir nicht.“ Drei Jahre später ist er froh über sein Schicksal: „Gott sei Dank ist es Deutschland.“ Doch bis Würzburg war es eine weite Reise für zwei Minderjährige. Es ging zu Fuß, mit dem Zug oder versteckt auf Lkw-Ladeflächen über die Türkei, Griechenland und Österreich bis in die Bundesrepublik. Dort irrten sie einen Tag lang umher – ohne zu wissen, wo sie sich eigentlich befanden. „Wir haben keine Flagge gesehen und die Sprache nicht verstanden. Den ganzen Tag haben wir gerätselt, wo wir überhaupt sind“, erinnert er sich. Obwohl das keine schönen Erinnerungen sind, taut Hesam während des Gesprächs auf. Rückblickend versteht er manches besser.  Er erzählt, wie sie im Zug schließlich von der Polizei nach ihren Pässen gefragt und mitgenommen wurden. Sie kamen in eine große Flüchtlingsunterkunft nach München – wo sechs Monate lang nichts passierte. „Ich hatte keine Schule und saß den ganzen Tag nur im Zimmer“, erzählt der junge Afghane. Als die beiden Bescheid bekamen, dass sie nach Würzburg sollten, ging zuerst nur der große Bruder. Hesam wollte im sicheren München bleiben. Erst als ihn sein Bruder anrief und sagte: „Hier ist es gut, komm!“, machte sich auch Hesam auf den Weg nach Unterfranken. Heute haben sie sich gut eingelebt. Hesams Bruder hat eine eigene Wohnung in Würzburg, arbeitet, ist mit einem deutschen Mädchen zusammen.

Zu ihrer Familie im Iran haben sie regelmäßig Kontakt. Hesams „Flüchtlingseigenschaft“, wie es im Beamtendeutsch heißt, ist im „zuerkannt“. Das bedeutet, dass er eine Aufenthaltsgenehmigung hat. Diese gilt drei Jahre. Danach kann er eine Niederlassungserlaubnis beantragen. Ob er dies auch tut? „FREILICH“, antwortet er ganz auf fränkisch. Hesam gefällt es in der Wohngruppe mit den anderen Jugendlichen. Hier werden sie 24 Stunden am Tag betreut. „Gerade in der ersten Zeit ist das notwendig. Viele sind traumatisiert und die Strapazen und Bedürfnisse kommen zutage“, erklärt Betreuerin Helena Gafarow. Über das Don Bosco Bildungszentrum absolvierte Hesam einen fünfmonatigen Deutschkurs, es folgte ein Praktikum in einer Bäckerei. „Dieser Beruf gefiel mir so gut, dass ich mich dazu entschied, dranzubleiben.“ In einem Ausbildungshotel in Gadheim schließt der Hesam bald seine Lehre als Bäcker ab.

Wie viele in seinem Alter ist er im Stress. Er lernt für den Führerschein und bereitet sich auf seine Abschlussprüfungen vor. Sein Arbeitstag beginnt um 3 Uhr nachts, nachmittags schläft er, abends wird wieder gebüffelt. „Das erste Jahr war schwer, das zweite normal und jetzt im dritten Jahr muss ich viel lernen“, erzählt er. Geschätzte 70 Prozent hat er im ersten Jahr seiner Ausbildung gar nicht verstanden. Also hieß es für ihn: noch früher aufstehen, noch mehr Vokabeln pauken. Heute spricht der Afghane sehr gut Deutsch. „Er ist ein fleißiger Junge, das verdient Lob“, sagt seine Betreuerin Helena Gafarow über ihn. Hesam hat seine Ziele klar vor Augen: „Ich will auf jeden Fall meine Prüfung schaffen und einen guten Job finden.“ Mit Arbeit ergibt sich auch alles andere für ihn: „Wenn man einen Job hat, kann man alles leisten. Dann kriegt man alles vom Leben, was man will.“  Was sagt er zu den vielen Vorurteilen gegenüber Ausländern und vor allem Asylsuchenden? „Es gibt gute und es gibt schlechte Menschen.“ Ihm ist es aber wichtig, was er aus seinem eigenen Leben macht.

Nur manchmal wundert er sich, wenn Menschen, die die biertrinkend auf der Straße sitzen, ihm „Ausländer raus“, entgegen brüllen. Schließlich komme er in diesen Momenten meist von der Arbeit. Aber Hesam sieht das pragmatisch: „Es gibt immer dumme Leute – in jedem Land.“ Aber: „Wir sind alle Menschen.“ Sein Leben in Würzburg genießt der 19-Jährige: „Im Iran musste ich nur arbeiten, hier kann ich auch etwas für mich selbst tun.“ Auf dem Weg zur Arbeit steigt er in Würzburg immer schon am Rathaus aus der Bahn und läuft die restliche Strecke bis zum Bahnhof, einfach um sich umzusehen. „Freizeit – das ist auch Freiheit“, fasst Hesam seinen ganz persönlichen Luxus zusammen. Und wenn es um Würzburg geht, unterscheidet sich der gebürtige Afghane auch nicht von den Einheimischen: „Ich liebe die Alte Mainbrücke.“ Bevor wir wieder gehen, will Hesam noch dringend eines loswerden: „Ich bin jetzt seit dreieinhalb Jahren in Deutschland und hatte noch nie eine Anzeige. Ich bin noch nicht einmal schwarz gefahren.“ Hesam hat mit 16 Jahren seine Familie verlassen, um eine Zukunft zu haben. Bald schließt er erfolgreich seine Lehre ab, er hat viele Freunde, ist gut integriert.  Dass er sich trotzdem noch rechtfertigen will, nur weil er aus seiner Heimat geflohen ist, bringt einen zum Nachdenken.

von Julia Schmitt, Fotos: Pascal Höfig

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