IN DIE KURZZEITÜBERNACHTUNG KOMMEN AUCH MÄNNER NACH AKUTEM WOHNUNGSVERLUST.
Erwin Dietrich kann heute Abend endlich wieder in einem Bett schlafen. In einem richtigen Bett. Mit Matratze. Bettdecke. Kopfkissen. In den vergangenen Nächten hatte er mit zwei Wolldecken vorlieb nehmen müssen. „Ich schlief in einem Keller“, sagt der 67-Jährige, der völlig mitgenommen aussieht. Seine Wangen sind eingefallen. Die Haut ist aschfahl. Er ist klapperdürr. Hat lange nichts Warmes mehr gegessen. Die Polizei hatte ihn in dem Keller aufgestöbert. Und zur Christophorus-Gesellschaft gebracht.
Mit Geduld lässt Erwin Dietrich in der Kurzzeitübernachtung (KZÜ) alles über sich ergehen. Er beantwortet Fragen. Lässt sich einweisen. Man zeigt ihm sein Bett. Er erhält ein Handtuch. Darf sich duschen.
In ihm selbst ist noch ein großes Durcheinander. Alles kommt ihm noch immer wie ein Albtraum vor. Die vielen Nächte im kalten Keller. Mit nur ganz wenig Nahrung. Nie war Erwin Dietrich vorher mit wohnungslosen Menschen in Kontakt gekommen. Den Namen „Christophorus-Gesellschaft“ hatte er zwar irgendwann schon mal gelesen. Aber nicht abgespeichert. Bisher war sein Dasein halbwegs in Ordnung gewesen. Er lebte vier Jahre lang in einer Wohnung, für die er keine Miete zahlen musste: „Ich war dafür Hausmeister.“ Dann wurde die Wohnung verkauft.
Damit verlor Erwin Dietrich die Grundlage seiner Existenz.
„Ich kann mir doch von meiner Rente keine Wohnung leisten“, klagt der gelernte Heizungsbauer, der sehr viel älter als 67 wirkt. Nicht einmal 600 Euro stehen Dietrich im Monat zur Verfügung. Er kam damit klar, solange er gegen Hausmeisterdienste ein Dach über dem Kopf hatte. Doch die neuen Vermieter hatten an dem angestammten „Deal“ kein Interesse: „Sie kündigten mir fristlos.“ Erwin Dietrich hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte. Er hat zwar einen Sohn. Eine Tochter. Doch zu beiden besteht seit vielen Jahren kein Kontakt mehr. Unmöglich, dort aufzuschlagen!
Bisher kam Erwin Dietrich mit jeder Schwierigkeit in seinem Leben einigermaßen zurecht. Doch nun ist er in einer Situation, in der er einfach nicht mehr weiter weiß. Sein Schicksal ist eher ungewöhnlich für das jener Männer, die in die Kurzeitübernachtung der Christophorus-Gesellschaft kommen, sagt Einrichtungsleiter Werner Schühler: „Die meisten unserer Klienten leben seit langem auf der Straße und ziehen umher.“ Aber auch Menschen, die akut ihre Wohnung verloren haben, sowie Männer aus osteuropäischen Ländern ohne Arbeit und Dach überm Kopf kommen in die KZÜ.
Ein jedes Schicksal ist hart. Wobei sich langjährig Wohnungslose mit ihrer Situation oft ganz gut arrangiert haben. Am schlimmsten ist es für die, die neu mit dem Schicksal „Wohnungslosigkeit“ konfrontiert werden. Wie Erwin Dietrich. Der fühlte sich in den ersten Tagen bei der Christophorus-Gesellschaft ein bisschen wie auf einem fremden Planeten. Man sagte ihm, dass er tagsüber in die Wärmestube gehen könnte. Dass es so eine Einrichtung gab, hatte er noch nie gehört. Er lernte die Bahnhofsmission kennen. Alles war neu für ihn. Alles gewöhnungsbedürftig.
Doch allmählich ebbte das innere Chaos ab. Erwin Dietrich begann, darauf zu vertrauen, dass es irgendwie weitergehen würde. „Hätten Sie Interesse daran, dass wir versuchen, Kontakt zu Ihren Kindern herzustellen?“, fragt ihn Werner Schühler. Erwin Dietrich blickt zu Boden. Er kann diese Frage im Moment noch nicht beantworten. Ob sich seine Kinder nicht schämen werden, den Vater in einer solchen Lage zu sehen?, denkt er. Aber dass man sich so sehr um ihn kümmert, das berührt den älteren Mann tief. Das hat er bisher so noch nie erlebt.
Erwin Dietrich lebte ziemlich isoliert. Den Menschen seiner Umgebung war es auch immer reichlich gleichgültig gewesen, was er tat. Und wie es ihm ging. Die freundliche Behandlung, die er von den Mitarbeitern der Christophorus-Gesellschaft erfährt, ist ihm neu. Sie tun nicht nur ihre Pflicht, stellt er erstaunt fest. Sondern sie sind wirklich besorgt. Und sie wollen, dass es ihm wieder besser geht.
Text & Foto: Christophorus-Gesellschaft