GESELLSCHAFT, NACHBARN, NEWS, SEHEN-HÖREN-FÜHLEN

WEIHNACHTEN – FRIEDVOLLES DYNAMIT

ALLE JAHRE WIEDER … BIRGT GERADE WEIHNACHTEN JEDE MENGE SOZIALEN SPRENGSTOFF. WIE MAN IHN ZUVERLÄSSIG ENTSCHÄRFT, ERKLÄRT UNS LORENZ WOHANKA IM INTERVIEW. ALS EXPERTE FÜR DAS VERHALTEN UND ERLEBEN VON MENSCHEN TREIBT DEN DIPLOM-PSYCHOLOGEN DIE STETE NEUGIERDE AUF SEINE LIEBEN NACHBARN, IHRE GEDANKEN UND HANDLUNGEN AN.

 

Weihnachten steht vor der Tür. Das Fest der Liebe ist nicht nur Anlass zur religiösen oder familiären Freude und zu unbeschwerten Feiern, sondern bietet auch reichlich Konfliktstoff und Raum für Einsamkeit, Trauer und sogar Gewalt. Woran liegt das EIGENTLICH?
Kaum ein Fest ist so mit Erwartungen überhäuft wie Weihnachten. Während des ganzen Jahres können sich Menschen guten Gewissens aus dem Weg gehen und sind so nicht gezwungen, konträre Lebensweisen, Ansichten und Gefühle auszuhalten. An Weihnachten kommen nun plötzlich Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebenssituationen zusammen, die zudem oft nicht mehr gewohnt sind, in sehr engem Kontakt zu stehen. Die ultimative Forderung des Festes ist Frieden unter Menschen und ein gedeihliches, liebevolles Miteinander. Viele halten diese Forderung nicht aus, weil sie den Rest des Jahres doch eher wenig gemeinsame Liebe und friedliches Miteinander erleben. So brechen eventuell bestehende Konflikte auf, die dann auch noch aufgrund der Enge und der Erwartung in ungeahnter Schärfe eskalieren. Eine zweite Schwierigkeit besteht für viele Menschen darin, an Weihnachten den eigenen Erwartungen und denen vieler anderer gerecht werden zu wollen und zugleich Ruhe und Erholung zu finden. Beispielsweise gelingt der Spagat zwischen Verwandtenbesuchen und eigener Ruhe nicht immer gut. Oft können Familien gar nicht mit Kindern, Schwiegerkindern, Großeltern und Co. feiern, weil alle Beteiligten unter Umständen hunderte Kilometer voneinander entfernt leben. Wenn man dann aber die Feiertage mehr auf der Autobahn verbringt als in Ruhe, nur weil man allen Familienteilen gerecht werden möchte, bleibt man selbst im wörtlichen Sinne auf der Strecke und wird unter Umständen aggressiv.

Spielt es vielleicht auch eine Rolle, dass Menschen trotz des Advents, der ja auf Weihnachten vorbereiten soll, gehetzt und irgendwie unvorbereitet dem Fest begegnen?
Mit Sicherheit. Weihnachten ist ja, wenn wir seinen Ursprung betrachten, eigentlich „nur“ ein bedeutendes Fest im Kirchenjahr, aber längst nicht das wichtigste. Wer Weihnachten im Kontext seiner religiösen Bindung bewusst erlebt, hat in aller Regel deutlich weniger Schwierigkeiten mit der empfundenen Vollbremsung gegen Jahresende, weil er durch ein bewusstes Gestalten der Adventszeit auf diese Tage vorbereitet wird. Mit der zunehmenden Verwandlung von „Weihnachten/Christmas“ in „Xmas“ verliert das Fest seinen Ursprungscharakter und wird ein Familienfest, dem natürlich bestimmte ritualisierte Vorbereitungen, die ein religiöser Kultus immer liefert, fehlen. Dadurch hetzen viele Menschen heute auf ein oft relativ konsumorientiertes Fest zu und haben eigentlich ein Übermaß an Stress, das sich dann unter der eingangs dargestellten Konstellation entlädt.

Studierende und junge Menschen, die eine Ausbildung machen und aus dem Elternhaus ausgezogen sind, erleben sehr einschneidende Veränderungen und entdecken ein eigenes Leben mit Rechten, Pflichten und natürlich Verantwortung. Für die Eltern bleibt man aber in erster Linie „Kind“, d. h. sie betrachten einen (nicht nur) an Weihnachten vielleicht anders, als man sich als junger Mensch selbst erlebt. Trägt auch das zu Konflikthaftigkeit bei?
Nun ja, die Emanzipation vom Elternhaus ist ein ganz natürlicher und wichtiger Vorgang, der an Weihnachten manchmal eine herbe Unterbrechung erfährt – natürlich längst nicht bei allen Menschen, das will ich klar gesagt haben! In vielen Familien herrschen jedoch unausgesprochene Erwartungen: ein Druck, Weihnachten zu feiern wie eh und je. Dann kommen eine junge Frau, ein junger Mann vielleicht auch mit Freund oder Freundin, die ganz anders sozialisiert sind, nach Hause und finden sich plötzlich in der Situation wieder, Weihnachten so gestalten zu dürfen, wie es immer war. Das kann man selbstverständlich als wunderschön empfinden und genießen. Vielen jungen Menschen, gerade wenn sie eigene Familien gegründet haben, fallen jedoch die ewig gleich ablaufenden Familienweihnachten auf die Nerven, weil sie einen zu scharfen Kontrast zu einem hektischen und selbstverantwortlichen Alltag bilden. So führen eben auch enttäuschte Erwartungen von Kindern, Eltern und Verwandten in ihrer jeweiligen Rolle zu Stress an Weihnachten.

Wie kann man denn darauf hinarbeiten, dass Weihnachten ein frohes und friedliches Fest wird?
Da gibt es vielfältige Ansätze. Beispielsweise kann man sich weitgehend dem Wahnsinn des Konsums entziehen. Viele Familien verbringen inzwischen Weihnachten geschenkefrei oder ziehen die Tradition des Wichtelns heran, bei dem jeder einen Wichtel zugelost bekommt und so nur ein Geschenk besorgt anstatt viele verschiedene. Das entlastet schon vor dem Fest ganz erheblich. In Bezug auf die übersteigerten Erwartungen hilft es, sich vorher einmal in Ruhe klar zu werden, was man eigentlich möchte, dies dann möglichst früh mit seinen Lieben zu besprechen und so gemeinsam auf ein ruhiges und frohes Weihnachten hinzuarbeiten – bei dem jeder einen Teil seiner Wünsche und Erwartungen erfüllt bekommt, sodass man das Fest am Ende gemeinsam genießen kann. Außerdem gibt es für Besuche bei Verwandten eine eiserne Regel, was die Dauer anbelangt: Fisch und Besuch stinken nach drei Tagen! Viele Menschen leben für eine kurze Zeit durchaus auch gern eng und nah miteinander. Da man das jedoch gar nicht mehr gewohnt ist, hilft es enorm, wenn wir solche Zeiten nicht zu lang ausdehnen. Der wohl wichtigste Punkt ist jedoch Selbstdisziplin: Machen wir uns klar, dass alle zu einem Fest beitragen und beginnen wir bei uns selbst. Ruhe und Frieden stiften müssen alle, und Da wir das nur bei einem Menschen wirklich zuverlässig sicherstellen können, sollten wir mit diesem Menschen anfangen: nämlich mit uns selbst! Dann klappt´s meist auch mit den LIEBEN NACHBARN und Verwandten – auch und gerade an Weihnachten.
Text: Lorenz Wohanka

Lorenz Wohanka, Diplom-Psychologe und Coach. Als Experte für das Verhalten und Erleben von Menschen ist Lorenz Wohanka in seiner eigenen psychosomatischen Praxis, in einem Studio für Körperarbeit und Pilates in Würzburg sowie in der Unternehmensberatung im gesamten deutschsprachigen Raum tätig. Seine Schwerpunkte sind Verhaltensregulation sowie der Umgang mit Belastungsspitzen und Ängsten.