EDITORIAL, NACHBARN

Ein Gespräch mit dem Diplom-Psychologen Lorenz Wohanka. Als Experte für das Verhalten und Erleben von Menschen treibt ihn die stete Neugierde auf seine LIEBEN NACHBARN und Ihre Gedanken sowie Handlungen an. In dieser Ausgabe widmen wir uns dem Frühling: Wenn die Uhren irgendwie anders gehen, die Tage immer heller und länger werden, dann platzen alle unsere LIEBEN NACHBARN – ob Pflanze, Tier oder Mensch – schier vor Lebenslust. Es drängt uns in Cafés, auf wintermüde Ringparkbänke, um die ersten warmen Sonnenstrahlen zu erhaschen – und alles um uns herum wird anziehender, bunter, irgendwie attraktiver. Höchste Zeit für Frühlingsgefühle also …

Was sind eigentlich „Frühlingsgefühle“?
Nun, fragt Euch selbst, wie es Euch jetzt geht: Der Mensch meint, fast zu platzen, hat Lust auf die Welt, das Aus-dem-Haus-Gehen und Aus-sich-heraus-Kommen. Viele nehmen wahr, dass man sich offenbar leichter verliebt – und Frauen wie Männer bekommen (mehr) Lust auf Sex. Wenn wir die Frage nach der biologischen Basis und dem psychologischen Verständnis der Frühlingsgefühle stellen, wird es ein wenig komplexer, zumal es jede Menge Mythen dazu gibt.

Ist es denn dann auch ein Mythos, dass man sich im Frühjahr leichter verliebt?
Nein, sicher nicht, Menschen erleben das alljährlich. Nur die vermittelnden Prozesse und Ursachen sind andere als allgemein vermutet. Die Menschen glauben, dass Hormone – insbesondere Sexualhormone – verrückt spielen, wenn es wärmer und heller wird. Dem ist aber nicht so. Hormonelle Regelkreise sind ziemlich stabil eingetaktet, da läuft so leicht nichts aus dem Ruder. Was aber eine große regulierende Rolle spielt, ist das Tageslicht – wir hatten das schon einmal beim Thema Winterblues: Nun, da es heller wird, sinkt die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin deutlich, dafür steigen die Spiegel von Serotonin und anderen Hormonen wie Adrenalin und Dopamin an, die uns Menschen das Leben aktiver erleben lassen. Dann kommen plötzlich noch andere biologische, kulturelle und soziale Faktoren ins Spiel; plötzlich ist ist der Mensch aktiver, mit anderen unterwegs – und überall, wo man auf andere trifft, steigt sofort die Wahrscheinlichkeit, sich zu verlieben.

Ist man also psychologisch „anfälliger“ für die Liebe, wenn die Sonne scheint?
Ja, denn die Sonne macht alles leichter, weil bunter, schöner und wärmer. Ein Beispiel: Kaum lässt die Sonne es zu, beginnen wir, die winterliche Verhüllungsorgie aus dicken Hosen, Mänteln, Schals und Mützen hinter uns zu lassen. Zum Vorschein kommen Frauen und Männer, die sich – geschmackvoll und attraktiv gekleidet – wunderschön mit allen biologischen Reizen präsentieren. Männer schauen Frauen in Miniröckchen nun einmal gerne auf die Beine und auf alle anderen schönen Formen und Reize. Die Frauen wiederum werden angezogen von kräftigen, männlichen Körpern und einer attraktiven, starken Haltung wie auch dem berühmten knackigen Po. Im Frühling sieht man wieder helle, kräftige Farben, alles sprießt und gedeiht: Da machen wir Menschen auch einfach mit. Das gilt übrigens genauso, wenn Männer sich in Männer und Frauen sich in Frauen verlieben. Verlieben und Liebe haben aber noch ganz andere Anteile als die primäre Äußerlichkeit, wie uns allen aus täglicher Erfahrung bewusst ist.

Kann man so etwas wie Frühlingsgefühle auch künstlich hervorrufen? Mit Sicherheit. Die biologischen Regelkreise kann ich beispielsweise durch hoch dosierte Lichtgabe oder Medikamente beeinflussen, was meine psychotherapeutischen ärztlichen Kollegen im Umgang mit kranken Menschen ja auch tun. Psychologisch-kulturell kann ich auch eine Menge bewegen: Warum gehen (nicht nur) Frauen durchaus gerne Kleidung shoppen und staffieren sich neu aus? Weil sie neue Farben und Reize suchen, das Neue, den Aufbruch, ein anderes Lebensgefühl. So etwas kann triste, trübe Tage aufhellen. Wenn ich also mit meinem Partneroder meiner Partnerin Neues erlebe, den Alltagstrott durchbreche, ihn oder sie in sprichwörtlich neuem Licht sehe, dann vermag das zu revitalisieren und gibt uns einen richtigen Kick. Auch Musik, die anregt, gefällt und stark positiv emotionalisiert, vermag Menschen an einem tristen Tag in wahre Ekstase zu versetzen. In solcher Stimmung sehe ich dann auch Menschen noch mal anders, steigere meine Lust auf Entgrenzung, die man natürlich auch in der Zweisamkeit sucht und findet.

Gibt es eigentlich so etwas wie einen Frühjahrsputz auch in der Beziehung?
In der Breite der Bevölkerung wahrscheinlich nicht als festes, regelmäßiges Ritual – obwohl das sicherlich nützlich ist! Denn halten wir uns vor Augen, wie es im Leben zugeht: Mit zunehmender Aktivität im Frühjahr, Lust am Leben, dem Verlassen des Hauses und dem Treffen anderer Menschen erfahren wir natürlich viele neue Reize, die uns anregen. Dann geraten wir ins Nachdenken: Ist unser Leben, so wie wir es gerade führen, das Leben, welches wir möchten? Sollten wir vielleicht etwas verändern, Routinen aufbrechen, neue Wege einschlagen? Diese Gedanken kommen, weil um uns herum alles aufzubrechen scheint: Natur, Tiere, Menschen, die Gesellschaft – alles öffnet sich und wir wollen uns mit öffnen. Dann steht auch die Beziehung auf dem Prüfstand und am besten gibt es wirklich einen gemeinsamen Frühjahrsputz, also klassische gemeinsame Arbeit an der Beziehung: Was wollen wir? Wie können wir dies miteinander umsetzen? Was wollen wir wagen und probieren? Welche Muster wollen wir entsorgen oder ändern?

Wie kann man Frühlingsgefühle auch in den Winter und die dunkle Jahreszeit retten? Das, LIEBE NACHBARN, geht mir jetzt zu weit in die Zukunft. Lebt doch erst einmal den Frühling – und ich verspreche Euch, wenn diese Frage im Herbst aktuell wird, dann unterhalten wir uns darüber, welche Gefühle im Winter entstehen können und wie sie uns helfen und nützen. Jetzt ist die Zeit für Leben, das nach außen drängt!

Text: Lorenz Wohanka