GESELLSCHAFT

#YouProbably Too?

Angst. Wut. Scham. Verzweiflung. Die richtigen Worte, das auszudrücken, was man fühlt? Fehlanzeige. Stattdessen: gar keine Anzeige. Was bleibt, ist fortwährendes Schweigen, das dich zu brechen droht, ehe du es brechen kannst. Bis eine die unbequeme Wahrheit ausspricht – und es ihr plötzlich Tausende gleichtun.

Wenige Wochen ist es her, dass die New York Times einen Artikel veröffentlichte, in dem über ein Dutzend Frauen den Hollywood-Mogul Harvey Weinstein anklagen, sie sexuell belästigt zu haben. Seitdem vergeht kein Tag ohne neue Äußerungen mutmaßlicher Opfer, in sechs Fällen ist sogar von Vergewaltigung die Rede. Bei den Betroffenen handelt es sich vornehmlich um junge Schauspielerinnen, die zum Zeitpunkt der Übergriffe am Anfang ihrer Karriere standen, unter ihnen namhafte Stars wie Angelina Jolie, Cara Delevingne und Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o. In einem Gastbeitrag für die New York Times schildert die 34-Jährige, wie sie 2011 als Schauspielschülerin den mächtigen US-Produzenten kennenlernte – und was nach dem obligatorischen Abendessen in dessen Wohnhaus geschah. Demnach soll Weinstein seinem Gast ohne Umschweife eine Massage angeboten haben. „Zuerst dachte ich, er scherzt“, erinnert sich die Darstellerin aus „12 Years a Slave“. Aus Angst, die versprochene Rolle nicht zu bekommen und in der Hoffnung, Kontrolle über die Situation zu behalten, habe sie stattdessen Weinstein eine Massage angeboten – nicht zuletzt, um stets zu wissen, wo sich seine Hände befinden. Als dieser trotz ihres Protests seine Hose auszog, habe sie die Villa schließlich fluchtartig verlassen. Das sollte Weinstein jedoch nicht daran hindern, bei einem weiteren Treffen mit der kenianischen Schauspielerin noch offensiver zu werden: Wenn sie Sex mit ihm habe, würden ihr in Hollywood Tür und Tor offen stehen. Nyong’o sagte nein – und sollte nie wieder mit der Weinstein Company zusammenarbeiten. 

Ein Hashtag, hunderttausende Geschichten
Dieser Tage bricht über Weinstein eine Welle von Anschuldigungen ganz ähnlicher Art herein. Dabei ist der offenbar chronisch verspannte Film-Mogul nicht der einzige, der beschuldigt wird, seine Machtposition gezielt zum Vertuschen sexueller Übergriffe genutzt zu haben. Hunderttausende von Schauspielerinnen, Models und Privatpersonen folgten dem Aufruf von Serienstar Alyssa Milano, unter dem Hashtag „MeToo“ ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit sexueller Belästigung und sexuellem Missbrauch zu veröffentlichen. Und die Bilanz der viralen Aktion ist erschreckend: Allein in Deutschland ist laut einer aktuellen Umfrage des Instituts YouGov jede zweite Frau bereits sexuell belästigt oder bedrängt worden. Und Hollywood liegt längst vor unserer Haustüre – man muss nur die Facebook-Posts auf seiner eigenen Startseite lesen: Da wäre der Unternehmensvorstand, der einem nach gelungenem Geschäftsabschluss lieber auf den Hintern klatscht als die Hand zu geben; der Typ im Zug, der sich einem mit stierendem Gesichtsausdruck im leeren Abteil gegenübersetzt und in die Hose langt; der Großonkel, der bei der Familienfeier mit Blick aufs Dekolleté bemerkt, wie groß man schon geworden ist; der Exfreund, der vor der Akzeptanz einer Trennung for old times’ sake nochmal sein Revier markieren möchte; der Professor, der einem sagt, dass man statt für die Prüfung zu lernen auch mit ihm essen gehen könne; der Gast, der im Restaurant mit Absicht immer wieder seinen Geldbeutel fallen lässt und einen lüstern grinsend auffordert, sich zu bücken; der Polizist, der eine Anzeige für sexuelle Belästigung aufnimmt, nur um einem nachts auf die hinterlegte Nummer zu schreiben, dass er gerne selbst eine Nummer schieben würde – aber bitte bloß dem Vorgesetzten nichts erzählen, sonst könnte es Probleme geben … Man wünschte sich, keine dieser Episoden wäre wahr. Dennoch: Mindestens eine Geschichte davon ist meine. Mindestens eine davon vermutlich Deine.

Walk of Shame
Trotzdem werden vielerorts Stimmen laut: Warum erst jetzt? Und warum plötzlich so viele? Tatsächlich ist die Antwort simpel: Bevor Opfer sexueller Belästigung und Gewalt das Verhalten ihres Gegenübers nach einer solchen Grenzüberschreitung in Frage stellen, stellen sie sich und die daraus resultierenden Gefühle nur allzu häufig selbst in Frage. Das, was eine Vergewaltigung war, wird beispielsweise häufig von Opfern nicht als solche klassifiziert – ganz so, als ob sie nie passiert wäre. Was bleiben, sind Trauma und Scham – und das garantiert immer auf der falschen Seite. Gerade, wenn ein Abhängigkeitsverhältnis oder eine emotionale Beziehung zum Täter besteht, wird zudem oftmals im Vorhinein abgewogen, welche Konsequenzen eine Anklage hätte. Passiert ja viel Schlimmeres jeden Tag, „richtig“ gewehrt hast Du Dich auch nicht, vielleicht hast Du ja selbst sogar die falschen Signale gesendet? Oder die Situation gar falsch eingeschätzt? Und wahrscheinlich, nein ganz sicher, wäre es besser gewesen, hochgeschlossen aus dem Haus zu gehen … Warum wir uns derart absurde Fragen stellen? Nun, da hören wir uns beispielsweise mal an, was Uschi Glas zu sagen hat.

Uschi, mach kein’ Quatsch!
Die deutsche Schauspielerin erzählte jüngst in einem Interview mit einer großen deutschen Zeitung, dass ihr noch nie sexuelle Belästigung widerfahren sei. Ihre Erklärung? Sie strahle einfach aus, dass sie ein solches Verhalten nicht gestatte: „Ich würde jedem todsicher eine Ohrfeige geben.“ Damit aber noch nicht genug des Victim Shaming. Ihr Unverständnis für weibliche Wehrlosigkeit gelte nämlich nicht, wenn Gewalt im Spiel sei, „das ist eine andere Sache.“ Really Uschi, ist es das? Rein rechtlich sind wir hier nämlich schon eine ganze Ecke weiter: Als vor nunmehr einem Jahr, am 10.11.2016, das neue Sexualstrafrecht in Kraft trat, wurde darin zugleich der Grundsatz „Nein heißt Nein“ verankert. Mit dem neuen Gesetz ist ein sexueller Übergriff schon dann strafbar, wenn er gegen den erkennbaren Willen einer Person ausgeführt wird. Es kommt nicht mehr darauf an, ob eine betroffene Person sich gegen den Übergriff körperlich gewehrt hat oder warum ihr dies nicht gelungen ist, was vor allem Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung erstmals umfassend berücksichtigt. Ein Meilenstein für den Schutz der Selbstbestimmung – und dennoch sind es Aussagen wie diese, die die Glaubwürdigkeit von Opfern sexueller Belästigung und Gewalt immer wieder anzweifeln – bis jene es selbst tun. Umso wichtiger ist der kollektive Aufschrei, umso wichtiger die Bestärkung von Opfern, mit der das Geschehene aus einem undurchdringlichen Gefühlsdunkel ans Licht gebracht werden kann. Schließlich sollte – vor allem im Zweifelsfall – immer Opfer- vor Täterschutz stehen.

Von Alpha-Tieren und Stereo-Typen

„Ich hatte mal ein männliches Kaninchen. Seitdem respektiere ich Männer.“ Was, Du verstehst nur Bahnhof? Dann dürften Dir vermutlich noch nicht die jüngsten Äußerungen der US-Schauspieler Ben Affleck und Matt Damon zu Ohren gekommen sein. Beide bekunden nämlich nicht nur medienwirksam ihr Mitgefühl mit Weinsteins Opfern, sondern betonen, wie sehr sie dessen Taten als Väter von Töchtern verurteilten. Affleck legt sogar noch nach und bemerkt, dass Männer ihre Schwestern, Freundinnen, Kolleginnen und Töchter noch besser beschützen müssten. Gut, bei einem Batman a. D. kann schon mal ein gewisser Beschützerinstinkt zutage treten, dennoch wäre es eventuell sinnvoller, stattdessen mal ein Wörtchen mit seinem Bruder Casey Affleck zu reden. Der hat nämlich auch schon so ein paar Anklagen wegen sexueller Belästigung am Hals – und das, obwohl die vermeintlichen Opfer Kolleginnen waren. Aber gut, vielleicht wusste er es als Vater von zwei Söhnen einfach nicht besser …

Womit wir wieder bei der Kaninchen-Analogie wären: Tatsächlich sollte man sich, auch ohne Vater von Töchtern zu sein, gegen sexuelle Gewalt an Frauen aussprechen. Noch wichtiger wäre es aber, dass Affleck und Co. mit ihren Statements sexuelle Gewalt generell verurteilen, denn natürlich gibt es auch zahlreiche erwachsene Männer, die Opfer derartiger Übergriffe werden. So wurde erst kürzlich publik, dass Oscar-Preisträger Kevin Spacey seit den 1980er Jahren mehrere Männer sexuell belästigt haben soll. Trotzdem treten selten „Väter von Söhnen“ ähnlich empört auf den Plan, wenn anderen Männer sexuelle Belästigung widerfährt oder diese vergewaltigt werden. Das könnte daran liegen, dass sich Männer von vornherein als potenziell gleichwertig ansehen – und somit erst gar nicht voreinander „beschützt“ werden müssen. Ein Privileg, das uns Frauen verwehrt bleibt, ist doch bereits die frühkindliche Geschlechterwahrnehmung eine sehr wertende – schließlich weiß jeder kleine Junge, dass es ein Manko ist, wie ein Mädchen zu weinen, zu rennen oder zu schlagen. Kein Wunder also, dass einige Vertreter des starken Geschlechts in diesem völlig falschen Rollenverständnis zu dem werden, was vermeintlich von ihnen erwartet wird. Was sich liebt, das neckt sich schließlich; Männer sind nun mal Jäger und bei manchen Frauen muss man einfach ein bisschen nachhelfen … Den Gegenpol bilden diejenigen, die zum Beschützer, Ernährer und Versorger auserkoren werden. Wichtig ist es daher, dort anzusetzen, wo die ersten Grenzüberschreitungen ihren Lauf nehmen – so können Mädchen nur in dem Maße aus längst überholten Rollenmodellen wachsen, in dem auch Jungs zugestanden wird, sich außerhalb veralteter Männerbilder zu entfalten.

Es sind aber doch nicht alle Männer so …
Fakt ist: Egal, wie sich stereotype Zuschreibungen im späteren Verhalten von Männern und Frauen manifestieren – am Ende kann es nur Verlierer geben. Schließlich wollen sich Männer genauso wenig als potenzielle Täter abgestempelt sehen wie Frauen in der ewigen Opferrolle. Umso mehr kann es keine Option sein, den erschreckenden Status quo, der sich nun nach der Aufdeckung des Weinstein-Skandals offenbart, stillschweigend hinzunehmen und zur Tagesordnung überzugehen. Natürlich wird es bald schon andere News geben, die brisanter sind als ein paar hunderttausend Frauen, die uns erzählen, was eigentlich schon lange jeder wusste. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der letzte große Aufschrei ähnlichen Kalibers nicht verhindern konnte, dass sein Urheber seit Januar das Weiße Haus bewohnt … Und so heißt es reden, reden und nochmals reden – bis sich dem Letzen der Unterschied zwischen „will ich“ und „willig“ eingeprägt hat. Bis man ernüchtert feststellt, dass die täglichen Bekenntnisse keine Ausgeburt weiblicher Hysterie à la Sigmund Freud sind, sondern noch immer die traurige Realität. Bis Mann erkennt, dass „Locker Room Talk“ niemals eine Euphemismus für „Sexisten-Stammtisch“ sein darf und bis man sich verpflichtet sieht, seine Stimme gegen frauenfeindliches Verhalten zu erheben – nicht zuletzt, da es ihn selbst genauso herabwürdigt wie die Frau, über die gesprochen wird. Was Peter über Sally sagt, sagt schließlich mehr über Peter aus als über Sally … So muss es heißen „let’s grab each other by the brain instead“ und einstehen für etwas, das uns alle angeht. Oder, um es in den Worten des kanadischen Premierministers Justin Trudeau zu sagen: „Sie fragen mich, warum mir Gleichberechtigung wichtig ist? Ganz einfach – weil es das Jahr 2017 ist.“

Text: Anna-Lucia Mensing; Foto: Nico Manger