Würzburg im Frühling. Es ist einer dieser besonderen Samstage inmitten unserer schönen, lebendigen Main-Metropole: Ich ruhe friedlich auf meiner Wohnzimmercouch, durch das gekippte Fenster dringt die Klangkulisse der Stadt an mein Ohr – und wie ich da so sitze und lausche, denke ich mir: Wenn man sich mal die Fakten ansieht … dann haben Schafe gegenüber Menschen eine ganze Reihe handfester Vorteile!
Schafe ordern keine ökologischen Bio-Algen aus China für ihre Ben/Leon/Elias/Noah/Wie-auch-immer-Kinder bei Amazon. Schafe fahren auch nicht direkt nach dem Klick auf „Bestellen“ ganz zufällig in den Urlaub, wohlwissend, dass ein „lieber“ Nachbar das Paket schon für sie annehmen wird. Schafe rasen ebenfalls nicht nachts im tiefergelegten 3er-BMW mit ohren-betäubenden Lärm durch die City, um ihre mittelhübschen Schafweibchen zu beeindrucken. Gleichfalls liegt es Schafen fern, nebenan sieben Jahre lang ein Haus in Eigenregie zu sanieren und vor allem samstags („Da wird gschafft!“) stets das neueste Presslufthammer-Modell aus der Kollektion „ARMAGEDDON“ zu testen.
Ja, ich wage sogar zu behaupten, Schafe pinkeln nach einer durchzechten Nacht in der Sanderstraße auch eher selten in Biotonnen – wobei hier der empirische Beweis noch aussteht. Um es auf den Punkt zu bringen: Schafe stehen meistens nur da und tun … rein gar nichts. Deshalb, so denke ich mir an jenem nervenzehrenden Samstagvormittag, sind Schafe definitiv die besseren Nachbarn! Wie gut, dass es ein Land auf dieser Welt gibt, in dem auf jeden der gerade mal fünf Millionen Einwohner tatsächlich zehn Schafe kommen – macht unterm Strich 50 Millionen mal wollig-angenehme Ruhe, Gelassenheit und, natürlich: Freiheeeeeit, mit sehr lang gezogenem „ei“. „Schottland, mein Land“, wie es der böse englische König Edward I. in Braveheart einst so treffend formulierte. Da ich spätestens seit Mel Gibson’s Meisterwerk eine tiefe Sympathie für dieses sagenumwobene Fleckchen Erde hege, fasse ich kurzerhand den Entschluss zu einem Nachbar-freien Roadtrip.
Also schnell einen Flug gebucht, den Mietwagen klargemacht, bei Amazon meine Jahresbestellung an Geschenken platziert (nimm das, namenloser Nachbar im dritten Stock!) – und ab dafür! Der erste Kontakt Einige Tage und knappe tausend Flugkilometer später stehe ich mit meinem Backpack im Flur eines schmucken Bed-and-Breakfasts in der Nähe von Stirling – draußen liegt schon düstre Nacht über den schottischen Lowlands, nur schemenhaft zeichnen sich im stumpfen Mondlicht einige Hügel ab. Mein Rucksack: klitschnass. Die Klamotten im Rucksack: klitschnasser. In meinem Kopf murmelt ein mit Kilt bekleideter, langhaariger Mann irgendwas von gutem schottischen Wetter, der Regen fiele immerhin fast lotrecht, nur leicht zur Seite geneigt. Klarer Fall von Braveheart-Hangover-Jetlag! Ich und mein Kopf freuen uns also auf eine heiße Dusche und ein warmes Bett – bis uns unser Gastgeber John McIrgendwas ziemlich unmissverständlich zu verstehen gibt, dass wir das erstmal vergessen können. Das Wetter sei wirklich furchtbar, ich müsse ja einen schlimmen Eindruck von Schottland bekommen, Deutschland – ah, er fahre ja privat sehr gern Audi und wolle ohnehin einmal das Museum in Ingolstadt besuchen. Ob es von Würzburg denn weit sei nach Ingolstadt, er habe ja kürzlich eine schlimme Erkältung gehabt, aber die sei jetzt so gut wie weg, weshalb er kein Problem sehe, schon nächste Woche nach Deutschland zu fliegen, immerhin sei der Flughafen in Edinburgh gar nicht weit – während ihm plötzlich auffalle, dass ich noch gar nichts zu trinken in der Hand hätte, was natürlich überhaupt nicht ginge, da wir ja in Schottland seien, das weltweit für seinen exzellenten Single-Malt-Whiskey geachtet werde; von dem er jetzt natürlich keinen da habe, aber ein Guinness tue es ja auch, obwohl das eigentlich aus Irland käme, aber das sehe man hier nicht so eng. Soviel also zur stillen Einsamkeit. Immerhin habe ich während der Unterhaltung mit John reichlich Gelegenheit, mein Schul-Englisch auf Schottisch-Englisch zu switchen – oder es zumindest zu versuchen.
Zwei Stunden und doppelt so viele Pints Guinness später entlässt mich der erste Schotte, den ich in meinem Leben kennenlerne, aus den Fängen seiner überwältigenden Freundlichkeit; ich falle blitzschnell und ganz ohne Schäfchen zu zählen in einen tiefen Schlaf. Scott sei Dank Als ich am nächsten Morgen erwache, ist da … nichts. Absolut kein Geräusch. Kein Lieferverkehr, keine Stadtreinigung, kein Presslufthammer-Crescendo. Vom Fenster aus blicke ich auf die sanft geschwungene Landschaft und entdecke unzählige weiße Wollknäuel, die ganz gemächlich und scheinbar ziellos über die grünen Wiesen tippeln. „Willkommen, Seelenverwandte!“, rufe ich der Schafherde in Gedanken zu – und da mich mein Roadtrip heute in den noch dünner besiedelten schottischen Norden führen wird, ertrage ich sogar das anderthalbstündige Frühstücks- pläuschchen mit John einigermaßen gelassen, ohne ein einziges Guinness wohlgemerkt! In meinem gemieteten Ford Fiesta tuckere ich nach kurzer Linksverkehr-Eingewöhnungszeit von Stirling aus nach Westen, lasse das geschäftige Glasgow links liegen, durchquere die touristenüberlaufene Gegend um Loch Lomond und arbeite mich an der zerklüfteten Westküste langsam Richtung Highlands. Je weiter nordwärts die teils einspurigen schottischen Straßen führen, desto atemberaubender die Szenerie: Weiße Schleierwolken weichen dunkelgrauen Wolkentürmen, sanfte Hügel wachsen zu felsigen Bergen heran, betupft mit saftig-grünem Wattegras. Bei der Fahrt durch Glen Coe, jenes wildromantische Tal, das auch in James Bond Skyfall als Kulisse dient, muss ich plötzlich wieder an John denken: „Wenn du in Schottland ein Reise machst“, hat er gesagt, „dann plane immer ein bis zwei Stunden mehr ein.
Du wirst nämlich alle paar Kilometer anhalten, um Fotos zu machen.“ Der gutmütige Gastgeber aus Stirling soll Recht behalten. Und so ist es bereits später Abend, als ich in Gairloch eintrudele, einem 750-Seelen-Nest direkt am Meer, weit oben an der schottischen Nord-westküste. Leider haben offensichtlich noch viele andere Menschen an jenem Tag die gleiche Idee, weshalb vor jedem respektablen Bed-and-Breakfast ein unmissverständliches „NO VACANCIES“, zu Deutsch „Keine freien Betten“, prangt. In meiner Verzweiflung und ob der hereinbrechenden (Regen-)Nacht suche ich das einzige bezahlbare Hotel in Gairloch auf; das The Old Inn, charmant eingepasst in eine alte Kutschstation. Das letzte freie Zimmer ist meins – und die ersten schottischen Fish & Chips im angeschlossenen (und zu dieser Zeit schon recht verwaisten) Pub ebenfalls. Satt und zufrieden schlürfe ich meinen flüssigen Nachtisch an der Bar, gucke der Barfrau beim Gläserpolieren zu, da schwingt die Pubtür auf und Scott tritt herein. „Scott from Scotland – es muss einen Gott geben“, denke ich mir. „Hey Kristie, gib mir n Pint … und du, machst du hier Ferien?“. Noch ehe ich bejahen kann, prostet mir Scott zu – und noch bevor ich überhaupt Gelegenheit habe, irgendwelche anderen Optionen in Betracht zu ziehen, versumpfe ich mit Scott und Kristie an der Bar des Old Inn.
Wir trinken und reden auf/über Gott, die Welt, das gespannte Verhältnis zu England, den Brexit, Scotts Job als Kraftfahrer, Kristies Kamin, den der letzte Sturm glatt vom Dach geweht hat („bloddy hell!“), bis ich schließlich gegen zwei Uhr morgens selig zum Matrazenhorchdienst antrete. Allein unter Schafen Okay Schottland, langsam beginne zu verstehen: Der Homo Sapiens ist ein Herdentier (das Schaf übrigens auch!). Vielleicht hätte ich für meine Suche nach der ultimativen Abgeschiedenheit in ein Land mit unfreundlicheren Menschen reisen sollen. Bei der Planung meiner Route kommen mir nach den Erlebnissen der letzten Tage jedenfalls berechtigte Zweifel an meiner Mission. Aber einen Joker hab ich noch im Ärmel: Schottland, give me your best Schott: Auf zu den Äußeren Hebriden! Wenn man irgendwo so richtig mit sich selbst in Klausur gehen kann, dann sicherlich auf dieser gottverlassenen und sturm-umbrausten Inselgruppe, 60 Kilometer vor der schottischen Westküste. Vom Touristen-Hot-Spot Isle of Skye geht es ein paar Stunden später per Fähre rüber nach Harris, das mit dem nördlichen Lewis zusammen eine Insel bildet, aber nochmal deutlich dünner besiedelt ist. Heißt in Zahlen: Gerade mal 4,9 Einwohner pro Quadratkilometer (in Deutschland sind’s übrigens 39!). Weniger als 2.000 Menschen harren heute auf Harris aus und trotzen hier den Launen des Nordatlantiks. Wer nicht als Fischer arbeitet, bewirtschaftet ein Stück Land oder produziert mit freundlicher Unterstützung der zigtausend Schafe den weltberühmten Harris-Tweed. Wo sonst könnte man sich als gestresster Mitteleuropäer also besser wie ein einsamer Wolf fühlen?
Ich starte meine Wanderung vom Hafenort Tarbert aus und kraxle nach ein paar Kilometern mutterseelenallein durch eine beinahe unwirkliche (Mond-)Landschaft: Grauer, karger Fels wechselt sich ab mit winzigen Lochs, dazwischen eine Vegetation, die sich aufs Allernötigste beschränkt. Den Schafen scheint’s zu gefallen; sie sind für lange Zeit meine einzigen Gefährten; selbst als ich einige der wohl schönsten und weißesten Sandstrände der Welt passiere, ist da niemand, wirklich niemand, außer mir … Das Restaurant am Rande des Universums Dann wird das Wetter schlechter. Viel schlechter. Es beginnt in Strömen zu regnen, der Wind peitscht über das endlose Nichts, noch immer kein Zweibeiner in Sicht. Etwas verunsichert kehre ich auf die befestigte Single Track Road zurück – wie viele Kilometer es noch nach Leverburgh sind, weiß in diesem Moment weder Google Maps noch Shaun, wie ich einen meiner wolligen Kompagnons spontan getauft habe. Ich laufe und laufe und laufe – bis plötzlich hinter mir in der Ferne zwei Autoscheinwerfer durch die Regengischt schimmern. Das war’s dann, denke ich mir – ausgeraubt, misshandelt und in der Sanddüne verscharrt!
Der Wagen hält an, ein grimmiger, unrasierter Typ mit Seemannsmütze und selbstgedrehter Kippe im Mundwinkel steigt aus… S t i l l e . „Hey sag mal, was machst du so allein hier draußen? Das ist ganz schön gefährlich bei dem Wetter. Steig ein, wir nehmen dich mit.“ Ach pfeif aufs Alleinsein, ich wills ins Trockene – und außerdem einen Whiskey! Den bekomme ich dankens-werterweise auch schon wenig später, als ich mit Chris und seiner Mutter Elisa in ihrem winzigen Cottage am Strand von Seilbost sitze und mich am torfigen Kaminfeuer wärme. Die haben mich einfach mitgenommen, einen Fremden, im Nirgendwo, einen Anhalter am Rande des Universums gewissermaßen. „Naja, ich seh das so: Hier draußen gibt es so wenige Menschen, dass du echt froh bist, wenn du mal jemanden zu Gesicht bekommst“, erklärt mir Chris. Das leuchtet ein – und ich stelle jetzt ernsthaft infrage, ob meine gelegentliche Misanthropie langfristig zu einem sinnvollen Lebensentwurf führt. Es passt perfekt zu dieser einsetzenden Erkenntnis, dass einige Stunden und Wanderkilometer später auch das zweite Auto ungefragt anhält, um mich mitzunehmen. Diesmal sind es Marc und Suzy. „Es wird gleich dunkel, wir müssen sowieso nach Leverburgh – hüpf rein.“ Ich denke diesmal keine Sekunde nach und genieße abermals die überbordende Freundlichkeit der Menschen in dieser (scheinbar) so menschenleeren Gegend.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es jemanden von Euch tatsächlich mal an die Südküste von Harris verschlägt: Der Schoko-Kuchen mit flüssigem Kern im „The Anchorage“ in Leverburgh ist eine Offenbarung! Slàinte, Supertramp! „Happiness is only real when shared“, schießt es mir einige Tage später durch den Kopf, als ich in einem Pub in Drumnadrochit am Westufer von Loch Ness sitze und schweigsam in mein Ale starre. Formuliert hat diesen Satz ein gewisser Christopher McCandless, der in den 90er Jahren unter dem Pseudonym Alexander Supertramp durch die USA vagabundierte, bis er schließlich auf der Suche nach der absoluten Einsamkeit in einem verlassenen Bus in der alaskischen Wildnis elendig verhungerte. Glück ist nur echt, wenn man es teilt – da steckt ziemlich viel Wahrheit drin. Und wenn jemand schon so weit gegangen ist, um eine so simple Einsicht zu gewinnen, dann sehe ich es als meine Pflicht an, dieses gedankliche Erbe in Ehren zu halten: Nachbarn, Schafe – hin oder her. „Hey Mann, was’s los mit dir?“, klopft mir Rikki auf die Schulter, in der Art und Weise, wie es gute alte Freunde tun. Dass ich Rikki erst zehn Minuten vorher kennengelernt habe – geschenkt. „Du spielst doch Gitarre, hast du gesagt. Die Band macht gerade Pause, lass mal zusammen klampfen!“ Ich kippe den Rest meines Ales hinunter, schnappe mir eine Gitarre und jame in einer vollbesetzen schottischen Kneipe mit wildfremden Leuten bis tief in die Nacht hinein. Text: Thomas Brandt; Fotos: Privat