GESELLSCHAFT, PAULINE

Lemminge & Wildschweinen

Mein Großvater erklärte mir immer, dass es besser sei, 
 Individuum zu sein. Nie setzte er den unbestimmten 
Artikel „ein“ davor, als würde er schon gedanklich vollkommen ausschließen, das Wort Individuum auch in der Mehrzahl zu verwenden. Seit er sich in der russischen Tundra im zweiten Weltkrieg vier Wochen ohne seine Kameraden durchschlagen musste, die ihn allesamt verloren hatten und die dann auch allesamt ohne ihn gemeinsam bei einem Bombardement gestorben waren, war Großvater eiserner Verfechter, ach was sage ich, stählerner Fürsprecher eines Lebens als Einzelner, fort vom Gruppenverhalten der Lemminge, der Masse.

28 Tage suchte Großvater damals seinen Weg durch die Tundra, immer weit genug fort von den Russen und ihren Gewehren und nah genug an den Russen, die dort wohnten und auch keinen Geschmack an Krieg gefunden hatten, stattdessen aber bisweilen Brot und Milch für ihn übrig. So schlug er sich seinen Weg durch die Fußstapfen der Flora und Fauna, er hatte nur sich, seine stumpfgelaufenen Stiefel und eine Bibel, die er unterwegs gefunden hatte, eine deutschsprachige Bibel, und den wichtigsten Psalm, der ihn seitdem begleitete, den Psalm 109, der da hieß „Rette mich vor dem Hass meiner Feinde“. Die Zeilen immer wieder zu sich selbst rezitierend wanderte mein Großvater mehr entkräftet als orientiert, mehr verloren als gefunden, näher dem aussetzendem Herzschlag als dem Rhythmus der Tageszeiten, durch die russische Landschaft. Er wanderte vorbei an den Farben des Sandes, dem feinen Ockergelb, dem tristen zähen Grün der Gräser und den Bäumen, die von der Ferne aussahen, wie Krähenschwärme und von Nahem wie der Versuch eines Waldes.

Mein Großvater war Individuum. Noch mehr, seit Großmutter aufgehört hatte zu atmen, vor ein paar Jahren. Seitdem hatten wir es uns zum Ritual gemacht, einmal im Sommer und einmal im Winter gemeinsam in die Berge zu fahren. Ich war inzwischen 25 geworden, mein Großvater 85, ein rüstiger Mann, gut zu Fuß, erst recht, seit dem Training, damals in Russland.

Manchmal versuchte ich, mit ihm zu diskutieren, erzählte ihm von den Vorteilen des Teamwork, dem Nutzen des gemeinsamen Schaffens. „Ach was!“, winkte er dann ab, „Junge, das wirst du auch noch lernen. Am Ende bist du besser alleine dran.“ Irgendwann hatte ich es aufgegeben, ihn überzeugen zu wollen und genoss die Wanderungen mit ihm, die Zugfahrten auf dem Weg zu den Bergdörfern, in die wir reisten, zwei Individuen. So sah mein Großvater uns, ich sah uns als Team. Als Einheit, zwei Generationen, die eine Leidenschaft teilten: das Wandern. Die Landschaft. Die Einsamkeit.

An diesem Tag sollten wir jedoch nicht rechtzeitig in G. ankommen. Wir saßen im Abteil, unsere Augen blickten Stakkato, von Strommast zu Mastschwein, von Gebüsch zu Geräusch zwischen den Dörfern, den Feldern, der Geschwindigkeit einer Reise, die längst Routine geworden war und sich entschleunigte. Großvater blickte auf: „Junge, warum werden wir langsamer? Was ist da los?“ Es rumpelte, ruckte, quietschte. Dann Stillstand. Als ich nach außen blickte, sah ich Körper. Ich drückte die Augenbrauen ans Fenster. Ich sah haarige Körper, stille Gliedmaßen, Fleisch, am Fenster floss ein roter Faden aus Blut. Ich sah Schnauzen, Rüssel schon fast, Reißzähne. „Was haben wir denn hier gemacht?“, wunderte sich Großvater. Er sah genauer hin. „Wildschweine sind das, meine Junge! Wie in der Tundra! Die können nicht allein. Nimmt einer den falschen Weg, folgen ihm alle.“ Er schüttelte den Kopf, schlug die Zeitung auf, verkroch sich darin: Individuum im Waggon ohne Außenwelt.

Mein Großvater las, ich unterhielt mich mit den anderen Passagieren, die verstört wie ich nicht nach draußen blicken wollten, den Kindern die Augen zuhielten, damit sie die Tiere nicht sahen, halb zerfetzt vom Triebwagen. Es kam eine Durchsage, wir verstanden „Ersatzzug … travelling with Deutsche Bahn.“, dann Rauschen. „Siehst du“, sagte Großvater zu mir. „Es war nur EIN Zug. Und ’ne Horde Wildschweine. Die sind alle tot und der ICE ist nur leicht ramponiert. Neue neue Lok dran, fertig. Wie ich damals in der Tundra – neue Schuhe dran, fertig.“ Seine Augen blickten in eine undefinierbare Ferne, vielleicht auch ganz nah in sich hinein, dann sah er mich an: „Es ist immer besser, alleine zu sein.“

Weiter hinten konnte ich die Lichter der Stadt sehen, in die wir einfahren sollten, als wäre nichts geschehen, was wichtig gewesen wäre.

Text: Pauline Füg
Foto von Pauline: Pierre Jarawan; Foto Landschaft: unsplash

Pauline Füg lebt in Würzburg,  weil sie nah am Wasser gebaut sein wollte und den Main für geeignet hielt. Als freie Autorin und Poetry Slammerin bereist die studierte Diplom-Psychologin seit 13 Jahren als eine der bekanntesten Bühnenpoetinnen  den deutschsprachigen Raum. 2011 wurde sie mit dem Kulturpreis Bayern und 2015 mit dem Kulturförderpreis der Stadt Würzburg ausgezeichnet. Pauline Füg gibt Poetry Slam- und Kreativ-Workshops für Theater und Bildungseinrichtungen, in ihrem Projekt DemenzPoesie arbeitet sie kreativ mit demenziell erkrankten Menschen. 2010 erschien ihr Lyrikband „die abschaffung des ponys“, 2015 die CD ihres Elektropoesie-Projektes großraumdichten mit dem Titel „langsamer als die dunkelheit“, beides erschien im stellwerck-Verlag.