GESELLSCHAFT

Brief in die Zukunft

Lieber Prof. Dr. B.A. M.A. LMAA. Anakin Talbott-Muriel,

wenn Sie diesen Brief lesen, bin ich schon mindestens 2.000 Jahre tot. Deshalb möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um mich vorab bei Ihnen in aller gebührenden Form zu entschuldigen. Denn als Archäologie-Koryphäe im Jahr 4019 haben Sie wahrlich nichts zu lachen. Während Generationen von Altertumsforschern vor Ihnen das große Glück genossen, eindrucksvolle Bauwerke, meisterhafte Kultstätten, wunderschöne Kunstgegenstände und ab und zu wenigstens einen römischen Puff oder spätmittelalterlichen Donnerbalken ausgraben zu dürfen, hat meine Generation Ihnen und Ihren Forscher-Kollegen doch ein äußerst zweifelhaftes Erbe hinterlassen.

Wie unfassbar dröge muss es für Sie sein, sich in wochen- und monatelanger Arbeit durch Erde, Staub und natürlich jede Menge Plastik zu graben, um schließlich auf die kümmerlichen Überreste eines 40.000 Quadratmeter großen real-Supermarktes in Ostwestfalen-Lippe zu stoßen! Welche wissenschaftlichen Schlüsse Sie dabei aus dem Nebeneinander von Stereoanlagen, Dosen-Streichwurst und Duft-Weichspüler ziehen mögen – ich mag gar nicht daran denken.

Kaum mehr Freude werden Sie bei der archäologischen Erschließung diverser nahe Würzburg gelegener Neubaugebiete haben. Lassen Sie sich von den Dachformen vieler Privathäuser nicht in die Irre führen: Sie müssen wissen, es gab eine Zeit, in der man glaubte, durch das Aufsetzen eines sogenanntes Toskana-Daches italienisches Flair und mediterrane Unbekümmertheit ins finstre Germanien importieren zu können. Doch spätestens, wenn am Samstagnachmittag die Straße vor der gepflasterten Einfahrt nicht gekehrt war und der BMW X3 2.0 xdrive in Gletscherweiß-Metallic mit individualisiertem Sportpaket nicht blitzeblank poliert vor dem anthrazitfarbenen Sektionalgaragentor stand, konnte es spontan zu schweren Ausschreitungen und Unruhen unter der ansässigen Bevölkerung kommen.

Es wird wohl einer dieser Krisenherde gewesen sein, der letztendlich den Untergang Europas heraufbeschwor. Oder es wurde den Menschen in ihren weißen, blutleeren Smart-Homes und vollautomatisierten Logistikhallen einfach so unfassbar langweilig, dass sie für immer eingeschlafen sind. Aber das werden Sie dann ja alles herausfinden. Wie gut, dass ich es nicht mehr erleben muss.

Herzliche Grüße aus dem ausklingenden Ölzeitalter

Ihr längst verstorbener lieber Nachbar aus dem Jahr 2019