GESELLSCHAFT, NACHBARN, STADTBILD

Ich packe meinen Rucksack für 25 Jahre

Über das Gespräch mit einem obdachlosen Menschen – und unseren Zeitgeist

 

In der Hektik der heutigen Zeit zieht vieles an uns vorbei.
Wir haben verlernt, Werte zu schätzen. Wir werden oberflächlicher, sehen vieles als selbstverständlich. Wir wollen immer mehr. Erfolgreich sein. Das Bestmögliche erreichen. Denn das, was wir besitzen, und das, was wir sind, reicht noch nicht aus. Wir machen uns Sorgen, das Beste nie erreichen zu können. Etwas zu verpassen. Dem Standard der Masse nicht standhalten zu können. Für jeden von uns ist es selbstverständlich, nach der Schule oder der Arbeit nach Hause zu fahren, sich auf zu Hause zu freuen. Es ist selbstverständlich, noch einen kurzen Abstecher in den Supermarkt zu machen, wenn der Kühlschrank leer ist. Es ist selbstverständlich, sich nach einer warmen Dusche in sein eigenes Bett legen zu können. Manchen Menschen sind jedoch all diese Selbstverständlichkeiten abhanden- gekommen. Menschen, die von uns oft ignoriert und herabgestuft werden, weil sie nicht mehr mit den gleichen Standards leben können, wie wir. Ich selbst bin an diesen obdachlosen Menschen mit schnellen Schritten vorbei-gelaufen, habe sie ignoriert. Damit ich nichts mit ihrem Leid zu tun haben muss. Eines Tages entschloss ich mich dann aber im Rahmen eines Projekts, nach draußen zu gehen und mich auf die Suche zu machen. Auf die Suche nach einem obdachlosen Menschen – und ein kleines bisschen mutig zu sein.

So lief ich an einem regnerischen Tag im November durch die Innenstadt, um Ausschau zu halten. Ich sprach eine Person an, die mit viel Gepäck und Plastiktüten unter einem Vordach saß, um sich vor dem Wetter zu schützen. Es war mir unangenehm, einen am Boden sitzenden Menschen darum zu bitten, mir seine offensichtlich kritische Lage genauer zu erklären. Ich gab ihm die Hand, stellte mich vor und erzählte ihm von meinem Projekt. Er wirkte überraschend auf- geschlossen und begann, meine Fragen zu beantworten. Die Anspannung war anfangs beiderseits zu spüren, doch im Laufe des Gesprächs lockerte sich die Situation immer weiter auf. Auch er versuchte, nicht nur auf meine Fragen zu antworten, sondern ein Gespräch aufzubauen.

So teilte er mir viele zusammenhanglose Bruchstücke aus seinem Leben mit. Details von Erlebnissen, Details die mich schockierten. Er ist ungefähr 50 Jahre alt. Lebt seit 25 Jahren auf der Straße. Muss jeden Tag um Hilfe betteln. „Es ist bald Weihnachten. Die Leute wollen ihr Gewissen reinigen.“ Er erklärte mir, dass er deswegen im Winter immer ein paar mehr Münzen bekommt als im Sommer.  Jeden Tag muss er sich um einen neuen Schlafplatz kümmern. „In den kalten Nächten ist es gefährlich.“ Wenn er seinen Schlafsack nicht komplett verschließt, läuft er Gefahr, im Schlaf zu erfrieren, den Reißverschluss am nächsten Morgen nicht mehr aufmachen zu können. Seit 25 Jahren kann er sich nicht mehr nach einer warmen Dusche in sein eigenes Bett legen. Höchstens nach einem kalten Regen in seinen klammen Schlafsack. Seit 25 Jahren kann er keinen Kühlschrank mehr füllen. Seinen Magen wahrscheinlich auch nur selten. Ab und an geht er in die Wärmestube, dort kann er sich und seine Klamotten waschen und bekommt eine kleine Mahlzeit. Wenn er großen Hunger hat, geht er zum McDonald’s, das McMenü dort sei sehr gut. Er erklärte mir sogar gleich, wie ich dort hinkäme. Je länger das Gespräch dauerte, desto offener erzählte er mir über das Leben auf der Straße, über seine Ängste, seinen Tagesablauf und viele seiner Schicksalsschläge. Erst nach dem Gespräch konnte ich die Details und Satzfetzen zusammenfügen und verstand, was er mir sagen wollte. Er erzählte mir Dinge über sich, die er nicht einmal anderen obdachlosen Menschen preisgibt. „Wir reden normalerweise nicht über solche Sachen.“ Nach dem Gespräch war ich geschockt, traurig, überrascht – und hatte einige neue Erkenntnisse gewonnen.

Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob wirklich alles wahr ist, was er mir erzählt hat. Worüber ich mir jedoch sicher bin, ist, dass er jeden Tag aufs Neue auf eine ignorante, unfreundliche Masse von Menschen trifft. Eine Masse, die verlernt hat, etwas wertzuschätzen; die zu viele Dinge als selbstverständlich entgegennimmt. Für die sich die Welt immer schneller drehen soll. Wir selbst sind Teil dieser Masse. Doch was passiert, wenn wir anfangen, unseren gesamten Besitz, unser Leben wieder mehr zu schätzen? Wenn wir versuchen, langsamer zu leben, mehr zu respektieren und dankbar zu sein? Achtsamer und mit offenen Augen durch unser Leben zu gehen?

Wir alle gehören auf eine bestimmte Art und Weise zusammen. Auch wenn wir uns fremd erscheinen, auch wenn wir uns nicht mit allen Menschen identifizieren können. Scheinbar unantastbare Welten sind oft nur durch ein paar Worte getrennt. Jeder von uns ist für sein eigenes Leben verantwortlich. Doch können wir uns gegenseitig helfen und den Menschen die Hand reichen, die durch einen Schicksalsschlag am Boden liegen. Manchmal genügen dafür auch einfach ein paar Worte …       

    Text & Fotos: Hannah Küspert